Ärztliche Freiheit und Berufsethos
Hrsg. v. Hans Thomas, J. H. Röll-Verlag, Dettelbach 2005, EUR 19,80
Mit Beiträgen von Edmund D. Pellegrino (Washington D.C.), Jörg-Dietrich Hoppe (Berlin), Adolf Laufs (Heidelberg), Nikolas Matthes (Baltimore), Winfried Kluth (Halle), Christian Hillgruber (Bonn), Robert L. Walley (St. John's/Kanada), John Keown (Washington D.C.), William B. Hurlbut (Stanford), Gerhard van Kaick (Heidelberg)
Ökonomische Zwänge hat es in der Medizin immer gegeben. Über Jahrhunderte erfreuten sich gleichwohl die Ärzte eines hohen Maßes beruflicher Unabhängigkeit. Die Freiheit verdankten sie ihrem öffentlichen Ansehen, das öffentliche Ansehen dem anspruchsvollen Berufsethos des Ärztestandes.
Zwar zwingen teuerste Hightech-Medizin und das demografische Ungleichgewicht mit steigendem Patientenalter dem Arzt ein neuartiges Kostenbewusstsein auf. Das allerdings weniger gegenüber dem einzelnen Patienten als gegenüber der Allgemeinheit. Deshalb ist die Gesundheitsreform nicht ein medizinisches, vielmehr ein politisches Thema. Im Visier steht nicht der konkrete Kranke. Auch nicht der ihn behandelnde Arzt. Vielmehr das anonyme System öffentlicher Versorgung. Die öffentliche Reformdiskussion ist nicht auf Patientenzuwendung zentriert, sondern einseitig ökonomisch orientiert. Die Politik steht unter dem Druck des Systems. Und sie bindet dem Arzt die Hände.
Hinzu kommen fr die Ärzte neue diagnostische und therapeutische Qualitätsstandards. Zweifellos engen auch die kollektiven Vorgaben eines klinischen "state of the art" (Evidence Based Medicine) sowie in ihrem Gefolge die Qualitätsmanagementprogramme (DMP) und Fallgruppenordnungen (DRG) die persönlich-ärztliche Entscheidungsfreiheit ein. Qualität, Kostendruck, Fehler meiden: Drei klare Herausforderungen, denen sich die Ärzte selbst stellen sollen - im eigenen Interesse und dem der Patienten - ehe sie ihnen politisch oktroyiert werden. Ja also zu unentwegter Fortbildung, zu mehr Zusammenarbeit mit und zwischen Spezialisten und - zur Meidung von Fehlern, ihren Quellen und ihren Folgen - zu mehr Systemanalyse und Selbstorganisation. Da mit wachsender Komplexität auch die Fehlerquellen zunehmen, liegt auf der Hand.
Zu einem nicht mehr übersehbaren Druck auf das ärztliche Gewissen führen indes die wachsenden Eingriffsmöglichkeiten am Anfang und am Ende des Lebens. Stichwörter: Pränataldiagnostik, Abtreibung, In-vitro-Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, embryonale Stammzellen, Klonen - bis hin zur Euthanasie, die in Europa wieder eingezogen ist. Der Arzt gerät zunehmend unter Druck, Entscheidungen zu treffen, die sein Verhältnis zum Patienten und zum eigenen Beruf belasten. Das Ergebnis sind Entscheidungszweifel auf Seiten des Arztes und Misstrauen auf Seiten des Patienten. In endlosen Debatten um Ethik in der Medizin und Bioethik wird "Ethik" selbst zu dem Problem, das sie eigentlich lösen sollte.
Der herrschende Pluralismus der Wertvorstellungen "befreit" die Ärzte von ethischen Bindungen. Subjekt medizinischer Ethik ist heute immer weniger der Arzt und immer mehr die Gesellschaft. Vom Arzt erwartet sie zunehmend bloß biotechnische "Dienstleistung". Forschung und Heilbehandlung werden vermischt.
Moral sei Privatsache, lautet ein liberales Bekenntnis. Ganz entgegen der liberalen Forderung nach "weniger Staat!" befördert es aber die progressive Verrechtlichung der Medizin. Der herrschende Pluralismus der Wertvorstellungen privatisiert die Moral. Private Moral bindet aber weder Staat noch Gesellschaft. An private Moral ist der Staat nicht gebunden. Gegen bloß private Moral "setzt er Recht". Dem ist der Arzt als einzelner dann machtlos unterworfen. Die "Befreiung" der Ärzte von ethischen Bindungen bezahlt die Ärzteschaft mit der Unterwerfung unter die Staatsräson.
Die Politik bedrängt das ärztliche Gewissen. Das heißt: die Freiheit des Arztberufs. Als Garant ärztlicher Berufsfreiheit greift die sittliche Selbstverpflichtung des einzelnen Arztes zu kurz. Mit einer Ärzteschaft hingegen, die als ganze treu zu ihrem Arztethos steht, muss sich die Politik arrangieren. Im Gespräch mit internationalen Experten die ethische Prägung ärztlichen Handelns erneut in den Blick nehmen: Darum geht es in diesem Band.
(Hans Thomas / Lindenthal-Institut)