Buchvorstellung: Ärztliche Freiheit und Berufsethos

Hrsg. v. Hans Thomas, J. H. Röll-Verlag, Dettelbach 2005, Euro 19,80

Mit Beiträgen von Edmund D. Pellegrino (Washington D.C.), Jörg-Dietrich Hoppe (Berlin), Adolf Laufs (Heidelberg), Nikolas Matthes (Baltimore), Winfried Kluth (Halle), Christian Hillgruber (Bonn), Robert L. Walley (St. John's/Kanada), John Keown (Washington D.C.), William B. Hurlbut (Stanford), Gerhard van Kaick (Heidelberg)

Ökonomische Zwänge hat es in der Medizin immer gegeben. Über Jahrhunderte erfreuten sich gleichwohl die Ärzte eines hohen Maßes beruflicher Unabhängigkeit. Die Freiheit verdankten sie ihrem öffentlichen Ansehen, das öffentliche Ansehen dem anspruchsvollen Berufsethos des Ärztestandes.

Zwar zwingen teuerste Hightech-Medizin und das demografische Ungleichgewicht mit steigendem Patientenalter dem Arzt ein neuartiges Kostenbewusstsein auf. Das allerdings weniger gegenüber dem einzelnen Patienten als gegenüber der Allgemeinheit. Deshalb ist die Gesundheitsreform nicht ein medizinisches, vielmehr ein politisches Thema. Im Visier steht nicht der konkrete Kranke. Auch nicht der ihn behandelnde Arzt. Vielmehr das anonyme System öffentlicher Versorgung. Die öffentliche Reformdiskussion ist nicht auf Patientenzuwendung zentriert, sondern einseitig ökonomisch orientiert. Die Politik steht unter dem Druck des Systems. Und sie bindet dem Arzt die Hände.

Hinzu kommen fr die Ärzte neue diagnostische und therapeutische Qualitäts-Standards. Zweifellos engen auch die kollektiven Vorgaben eines klinischen "state of the art" (Evidence Based Medicine) sowie in ihrem Gefolge die Qualitätsmanagementprogramme (DMP) und Fallgruppenordnungen (DRG) die persönlich-ärztliche Entscheidungsfreiheit ein. Qualität, Kostendruck, Fehler meiden: Drei klare Herausforderungen, denen sich die Ärzte selbst stellen sollen - im eigenen Interesse und dem der Patienten - ehe sie ihnen politisch oktroyiert werden. Ja also zu unentwegter Fortbildung, zu mehr Zusammenarbeit mit und zwischen Spezialisten und - zur Meidung von Fehlern, ihren Quellen und ihren Folgen - zu mehr Systemanalyse und Selbstorganisation. Da mit wachsender Komplexität auch die Fehlerquellen zunehmen, liegt auf der Hand. 

Zu einem nicht mehr übersehbaren Druck auf das ärztliche Gewissen führen indes die wachsenden Eingriffsmöglichkeiten am Anfang und am Ende des Lebens. Stichwörter: Pränataldiagnostik, Abtreibung, In-vitro-Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, embryonale Stammzellen, Klonen - bis hin zur Euthanasie, die in Europa wieder eingezogen ist. Der Arzt gerät zunehmend unter Druck, Entscheidungen zu treffen, die sein Verhältnis zum Patienten und zum eigenen Beruf belasten. Das Ergebnis sind Entscheidungszweifel auf Seiten des Arztes und Misstrauen auf Seiten des Patienten. In endlosen Debatten um Ethik in der Medizin und Bioethik wird "Ethik" selbst zu dem Problem, das sie eigentlich lösen sollte. 

Der herrschende Pluralismus der Wertvorstellungen "befreit" die Ärzte von ethischen Bindungen. Subjekt medizinischer Ethik ist heute immer weniger der Arzt und immer mehr die Gesellschaft. Vom Arzt erwartet sie zunehmend bloß biotechnische "Dienstleistung". Forschung und Heilbehandlung werden vermischt. 
Moral sei Privatsache, lautet ein liberales Bekenntnis. Ganz entgegen der liberalen Forderung nach "weniger Staat!" befördert es aber die progressive Verrechtlichung der Medizin. Der herrschende Pluralismus der Wertvorstellungen privatisiert die Moral. Private Moral bindet aber weder Staat noch Gesellschaft. An private Moral ist der Staat nicht gebunden. Gegen bloß private Moral "setzt er Recht". Dem ist der Arzt als einzelner dann machtlos unterworfen. Die "Befreiung" der Ärzte von ethischen Bindungen bezahlt die Ärzteschaft mit der Unterwerfung unter die Staatsräson. 

Die Politik bedrängt das ärztliche Gewissen. Das heißt: die Freiheit des Arztberufs. Als Garant ärztlicher Berufsfreiheit greift die sittliche Selbstverpflichtung des einzelnen Arztes zu kurz. Mit einer Ärzteschaft hingegen, die als ganze treu zu ihrem Arztethos steht, mu die Politik sich arrangieren. Im Gespräch mit internationalen Experten die ethische Prägung ärztlichen Handelns erneut in den Blick nehmen: Darum geht es in diesem Band.

(Hans Thomas / Lindenthal-Institut)

Edmund D. Pellegrino: Bekenntnis zum Arztberuf - und was moralisch daraus folgt

Eine tugendorientierte Moralphilosophie des Berufs

"...weil die Willenswahl ohne Klugheit und ohne Tugend nicht recht geraten kann.
Diese lässt uns das Ziel bestimmen, jene die Mittel dazu gebrauchen."
(Aristoteles, NE 1145a, 4-6)

Das Wort "profession" (Profession, Beruf) leitet sich etymologisch vom lateinischen profiteri ab: laut oder öffentlich bekennen (The Oxford Dictionary of English Etymology, 1966). Was die Berufe bekennen, ist eine Forderung speziellen Wissens und der Treue zu etwas, was das Eigeninteresse überschreitet. Die Berufe formulieren dieses Bekenntnis öffentlich in ihren Codices, Berufsordnungen und -Gelöbnissen. Persönlich artikulieren die Berufsangehörigen das Bekenntnis mit jedem Angebot ihrer Dienste dem gegenüber, der ihrer Hilfe bedarf und sie in Anspruch nimmt.

Der "Bekenntnisakt des Berufs" ist also ein feierliches Versprechen der Kompetenz und des freiwilligen Eintretens in ein vertragliches Vertrauensverhältnis. So wird er von denen verstanden, denen gegenüber das Bekenntnis erfolgt. Durch seinen Bekenntnisakt verpflichtet sich der Angehörige eines Berufs zum Guten für sein Gegenüber - im Falle der Medizin im besten Interesse des Patienten.

In diesem Beitrag werde ich ausführen, daß der Akt des Bekenntnisses zum Beruf der moralische Kern wahrer Berufsethik ist. Mit seinem Bekenntnis zum Beruf bindet sich der Bekennende selbst an bestimmte intellektuelle und moralische Tugenden, an diejenigen nämlich, die ihn habituell befähigen, sein Versprechen einzulösen und die Erwartungen zu erfüllen, die das Versprechen auslöst. Die Treue zu diesen Tugenden macht aus dem Berufsangehörigen einen guten Vertreter des Berufs.

Meine nachstehenden Ausführungen beziehen sich vornehmlich auf die Klinische Medizin und die Phänomene, die den Arztberuf zu einem moralischen Unternehmen machen.

Ähnliches läßt sich für Sozialmedizin und Public Health darlegen. Dasselbe gilt für andere dienstleistende Berufe wie Rechtsanwalt, Seelsorger und Lehrer (Pellegrino, 2001). Jeder dieser Berufe gründet auf seinem je eigenen Bekenntnis und jeder verlangt bestimmte Tugenden, die zur bestmöglichen Erfüllung seiner Zwecke befähigen. Es handelt sich jeweils um die Tugenden, die dem Beruf zuinnerst eigen sind, die seine Ziele verlangen und die zu ihrer Erreichung unverzichtbar sind.

Es geht also hier weniger um die Ethik in der Medizin in ihrer gesamten Spannweite als um die Ethik in der Klinischen Medizin. Und hier stütze ich mich stark auf die klassische Ethik-Theorie. Näherhin richtet sich mein Blick auf das Berufsethos, die Ethik des Arztberufs. Die ethischen Aspekte bei der Anwendung einzelner medizinischer Techniken müssen zurückstehen. Zu diesen letzteren gehören nicht zuletzt auch die Entscheidungen am Ende des Lebens, die Herausforderungen der humangenetischen Medizin, die Reproduktionstechnologie und die Dilemmata zwischen Biotechnologie und "Verbesserung" des Menschen. Dies sind alles zwar extrem wichtige Themen. Gleichwohl richten sich meine Ausführungen hier auf die Moralität des beruflich handelnden Arztes - im Sinne einer Moralphilosophie des professionellen Handelns.

Meine Ausführungen gliedern sich in vier Teile. Im ersten entwickle ich die Grundlinien meiner Sicht der Tugendtheorie und ihre Bezogenheit auf Ziele ganz allgemein und auf Zwecke der Klinischen Medizin im besonderen. Der zweite Teil wendet sich dem für den Patienten Guten zu als dem spezifischen Zweck klinischer Medizin, sodann den zur Erreichung dieses Zwecks nötigen speziellen Tugenden. Im dritten Teil werden die Ergebnisse auf andere dienstleistende Berufe ausgedehnt. Im vierten Teil gehe ich dann auf einige Einwände gegen die hier vorgetragene Argumentation ein.

I. Tugendethik

Die Tugendlehre ist die beständigste und zugleich komplexeste Ethik-Theorie. Ihre Wurzeln liegen in der klassischen Antike. Das Mittelalter hat sie bereichert und zur Blüte gebracht. Bis ins 18. Jahrhundert blieb sie Schwerpunkt der Moralphilosophie. Dann trat sie in den Schatten der Theorien des Rechts, der Pflichten, der Folgenabschätzung und sozialer Konstruktion. Besonders  G.E.M. Anscombe (1981) und A. MacIntyre (1984) haben eine erfreuliche Renaissance eingeleitet. Viele Ethiker heute erkennen die Notwendigkeit einer gewissen Tugendorientierung an, um eine umfassende Theorie der Moral zu entwerfen.

Diese modernen und zeitgenössischen Bezugnahmen variieren hinsichtlich der Interpretation der klassischen Tugendlehre und ihrer Anwendbarkeit auf das moralische Leben in der heutigen Welt. Einige halten an der Gültigkeit und Aktualität der klassischen Ausprägung fest (Devettere 2002). Andere bestehen auf Modifikationen oder weichen ganz von ihr ab und führen andere Bestimmungen des Tugendbegriffs ein (Statmann 1997; Trianoski 1997). Es würde diesen Beitrag sprengen, auf alle diese Barianten mit ihren etwaigen Folgen für meine Argumentationslinie einzugehen.

Meine Ausführungen bleiben der klassischen Tugendlehre stark verpflichtet, soweit ich sie im spezifischen Kontext beruflicher Verhältnisse interpretiere. Die klassische Theorie betont die teleologische, also zweckorientierte Natur der Tugend. Das kommt meines Erachtens meiner Art, den beruflichen Bekenntnisakt zu bestimmen, sehr entgegen. Einen Beruf zeichnet je seine Hinordnung auf das Gute für diejenigen aus, denen zu dienen seine Aufgabe ist. Insofern bringt er die Selbstverpflichtung zum Besitz der intellektuellen und moralischen Tugenden, die die Erfüllung dieser Aufgabe verlangt, schon mit sich.

Ich akzeptiere die Einschränkung, daß Tugendlehren nicht ganz in sich abgeschlossen bestehen können - d.h. unabhängig von Prinzipien und Pflichten. Es gibt auch noch andere Einschränkungen (Solomon 1997). Hierzu gehören einige wenige aus moralischen Leitlinien folgende Handlungsanweisungen, Meinungsverschiedenheiten über das für den Menschen Gute und der Ersatz metaphysischer Zweckorientierung (Teleologie) durch utilitaristische Folgenabschätzung (Konsequenzialismus). Trotz dieser Schwächen liefert die klassische Tugendlehre eine konsistentere Berufsethik als ihre skeptischeren modernen Varianten oder Ersetzungen.

 Gewiß machen die heutigen Auffassungsunterschiede über Ziele und Sinn des menschlichen Lebens es schwer, die Verbindung zwischen dem Guten und den Tugenden zu verdeutlichen. Die naturrechtliche Ethik definiert das für die Menschen Gute in Aristotelischer Terminologie als das, was für die menschliche Erfüllung nötig ist (Finnis 1980, MacIntyre 1984). Die Stoiker setzten das Gute mit moralischer Vollkommenheit gleich, mit dem Wissen und Tun dessen, was recht ist (Sandbach 1975). Wie auch immer, das Gute, um das es uns geht, ist nicht das schlechthin für den Menschen als Menschen Gute im Vollsinn des Wortes, sondern das Gute, auf das die Ausübung eines bestimmten Berufes ausgerichtet ist.

Mit diesem teleologischen Ansatz scheint mindestens eine Schwäche der klassischen Lehre überwindbar zu sein. Gemeint sind die Schwierigkeiten, bestimmte Tugenden oder Tugend überhaupt zu definieren. Oft unterlag man einem Zirkelschluß wie: Tugenden sind die Charakterzüge tugendhafter Personen. Oder: Tugendhaft ist, wer Tugenden erkennen läßt. Tugenden auf Ziele beziehen löst dieses Problem. Bezieht man Tugenden auf Ziele, so meine Auffassung, gibt das dem moralischen Leben einen Vektor: Richtung und Maß von einem Ausgangs- hin zu einem Endpunkt.

Zwar löst der Rekurs auf die klassische Tugendlehre nicht alle Moralfragen. Es gibt eine Tendenz, die Tugendlehre als Antidot (Gegengift) zu den von manchen beklagten Irreführungen des Kantianismus, Utilitarismus und Prinzipialismus1 zu betrachten. Die Tugendlehre soll die Abstraktheit, Engführung und Verdrängung der Moralität als solche heilen, die Kritiker in diesen Theorien ausmachen. Hierzu neigen existentialistische, bestimmte fürsorgerische3 (Pellegrino 2000). Was unter diesen Umständen für den Patienten gut ist, darüber können der Arzt, der Patient oder seine Angehörigen sehr verschiedener Meinung sein.

Moralisch gesehen besteht für den Arzt keinerlei Verpflichtung zu zwecklosen oder unverhältnismäßig belastenden Behandlungen. Das hieße nicht Gutes tun, sondern schaden. Aber nicht selten kommt aus den Familien von Patienten der Wunsch, daß "alles" getan werde, Herz-Kreislauf-Wiederbelebung eingeschlossen, selbst wenn die Dinge so liegen, daß es zu keinem Erfolg führt. Derlei Konflikte bei der Deutung, worin das für den Patienten Gute besteht, sind heute im Klinikalltag häufig. Und es sieht so aus, daß sie in unserer moralisch vielsprachigen Gesellschaft noch weiter zunehmen.

Diese Schwierigkeiten verlangen mit Nachdruck nach mehr Klarheit im Prozeß klinisch-ethischer Entscheidungsfindung. Es bedarf einer eindeutigeren Definition der Ziele der Medizin, die sich auch in diesen Schwierigkeiten bewährt, ohne die Bedeutung einer solchen Definition zu trivialisieren. Ohne eindeutigere Ziele der Medizin würde tatsächlich der Entscheidungsprozeß ethisch noch schwieriger als er schon ist. Wählen können und die richtige Wahl treffen sind zweierlei (Taylor 1980). Unerhörtes Wählen des Falschen und Wahlkonflikte sind in der klinischen Ethik ein Dauerproblem.

f) Tugenden in einer praxisbezogenen Ethik - Medizin als Praxis

Über Tugenden wird meistens mit Blick auf Ethik im allgemeinen diskutiert. Es geht um Beziehung zwischen Tugend und dem Guten im menschlichen Leben, dem, was für Menschen gut ist. Innerhalb einer spezifischen Tätigkeit wie der Medizin hat Tugend - in einer nach meinem Sprachgebrauch speziellen Ethik - eine engere, eine existentielle, wenn nicht essentielle Bedeutung. Zu Tugenden als Bestandteil des Praxis-Begriffs sind MacIntyres Arbeiten hilfreich. Versuchsweise liefert er folgende Definition der Tugend:

"Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen." (1984; 191)4

Und "Praxis" definiert MacIntyre so:

"Mit "Praxis meine ich jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, daß menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert  werden." (1984; 187)5

Die Medizin gilt für MacIntyre (1984; 187) In diesem Sinne als Praxis. Eigen sind ihr ein inhärentes Gut, eine Reihe von Regeln und Pflichten sowie bestimmte zur Erreichung des inhärenten Gutes unverzichtbare Tugenden, ohne die das Gut unerreichbar bleibt. Die zur Medizin gehörigen Tugenden sind die zur Verwirklichung des inhärenten Gutes erforderlichen Maßstäbe der Vortrefflichkeit. Und dieses inhärente Gut ist, wie zuvor beschrieben, das für den Patienten Gute.

Ganz allgemein trifft MacIntyres Definition von Praxis auf die medizinischen Berufe zu. Demnach gibt es für einen Heilberuf ein spezifisches Ziel oder Gut, welches die Berufspraxis definiert. Das Ziel wird auf vortreffliche Weise verwirklicht, wenn die Praxis vortrefflich ausgeübt wird. Und zugleich macht es den beruflich Handelnden zu einem guten Vertreter des Berufs. Das den medizinischen Berufen inhärente Gut ist Heilen: helfen, pflegen, behandeln und Kranken das Leben erträglich machen - alles Handlungsweisen zum Wohl des Patienten, die sich zusammenfassen lassen unter dem weiteren Begriff Heilen im Sinne von soweit wie möglich wieder ganz machen, Funktion wiederherstellen, Krankheit behandeln, Schmerzen und Leiden lindern. Der Arzt und die Krankenschwester, die das gut machen, leisten gute Arbeit und werden eben dadurch zum guten Arzt und zur guten Krankenschwester. Das medizinischer Praxis inhärente Gut Heilung muß um seiner selbst willen angestrebt werden und nicht wegen externer Güter, da damit Hand in Hand verwirklicht werden mögen wie Verdienst, Selbstzufriedenheit, Prestige oder Macht. Aus dem richtigen Grund die richtigen Tugenden ausüben macht die Schwester oder den Arzt zu einem guten Menschen und bringt sie oder ihn dazu, ihre Arbeit gut zu machen (NE 1106a, 22-24).

g) Berufsethos und Bekenntnis zum Beruf

Wenn wir es nicht dabei bewenden lassen, berufliche Tugenden für Charakterzüge zu halten, die Bewunderung verdienen, müssen wir sie an etwas festmachen, was über subjektive Meinung hinausgeht. Im Arzt-Patienten-Verhältnis, im Verhältnis zwischen einem, der krank ist, und einem, der sich zu seiner beruflichen Aufgabe zu heilen bekennt, treten drei existentielle Phänomene hervor, die für die ärztlichen Tugenden bestimmend sind. Die drei zentralen Phänomene sind: die Tatsache Krankheit, der Akt des Bekenntnisses und die medizinische Kunst (Pellegrino 1976; 1979; Pellegrino and Thomasma 1981). Ethisch bestrachtet ist der Bekenntnisakt der moralische Antrieb, der die Tugenden hervorbringt, deren der gute Arzt bedarf.

An der Tatsache Krankheit ist nicht vorbeizukommen. Sie gehört zur Welt der Fakten: Die kranke Person befindet sich in einem Zustand der Verletzlichkeit, der Hilfsbedürftigkeit, der Abhängigkeit von anderen, die diese Hilfe leisten können und über das hierzu technische Wissen verfügen. Der Patient ist ausnutzbar, hat Angst, hat oft auch Schmerzen oder leidet sonstwie. Als Mensch ist der Patient bis zu einem erheblichen Maß darin eingeschränkt, die Ziele seines Lebens, wie er sie sieht, zu verfolgen.

In diesem verletzlichen Zustand begegnet ihm der Arzt oder der Angehörige eines anderen Heilberufs und bekennt sich offen und freiwillig zu diesem Beruf, erklärt sich als jemand, der helfen kann und helfen will, d.h.: Er vollzieht einen Bekenntnisakt. Dieser Bekenntnisakt erfolgt in dem Augenblick des Hilfeangebots. Genau das bedeutet etymologisch "to be a professional" (professionell sein, einer Profession angehören). Dieser Bekenntnisakt erfolgt täglich, in der Begegnung mit jedem Kranken. Somit ist es ein persönlicher Bekenntnisakt - ein Versprechen gegenüber einer konkreten Person. In einer mehr öffentlichen und allgemeinen Form wird das Bekenntnis zu Beginn und zum Abschluß der medizinischen Ausbildung abgelegt. Das ist ein Akt öffentlichen Versprechens. Dieser Akt des Versprechens führt den Absolventen in den Arztberuf. Weit mehr als die Tatsache, daß er nun über das Fachwissen verfügt, dass er einen Abschluß in Medizin vorweisen kann, dass er Praxiserlaubnis erhält (Freidson 2001: 12). Diese soziologischen Bestimmungen von Professionalität konkretisieren sich in ihrer grundlegend moralischen Bedeutung für jeden Arzt in seinem Hilfeversprechen gegenüber einem konkreten hilfsbedürftigen Menschen.

Auf Seiten des Patienten weckt der Bekenntnisakt die Erwartung, daß jemand, der sich so bekennt, über das erforderliche Wissen verfügt und dieses Wissen im Interesse des Hilfsbedürftigen einsetzt. Denn seitens des Arztes signalisiert der Bekenntnisakt die Offenheit, mit der er eine auf Vertrauen gründende Vereinbarung eingeht. Gegenstand dieser Vereinbarung ist die versprochene Erfüllung des vom Patienten erwarteten Fachwissens und seines Einsatzes zum Wohl des Patienten. Indem sich der Patient dem Doktor oder der Krankenschwester anvertraut, akzeptiert er deren Versprechen und erwartet dessen treue Erfüllung. Vom Patienten verlangt die Vereinbarung, dem Arzt die Erfüllung seiner Vertragspflicht zu erleichtern, ihn in seiner Bemühung mindestens nicht zu frustrieren.

Die medizinische Kunst besteht in der Durchführung der vom Patienten erwarteten Heilmaßnahme, um das Gute zu erlangen, das er sucht (Hilfe, Pflege, Behandlung etc.) und das ihm mit dem Bekenntnis des Arztes versprochen wurde. Diese Kunst schließt die vielen verfügbaren Formen moderner Therapie ein - diagnostische Verfahren, Medikation, Chirurgie, Psychotherapie, usw. In welcher Form auch immer, die Heilkunst muß sicher, kompetent und mit Respekt vor dem Patienten ausgeübt werden. Insofern ist Kompetenz ein wesentlicher Bestandteil der Verwirklichung des der klinischen Arzt-Patient-Beziehung inhärenten Guten.

Zusammenfassend: Die medizinische Kunst - das was der Arzt tatsächlich tut, um das der Medizin inhärente Gut zu verwirklichen - verlangt beides, moralisch und technisch richtiges Entscheiden und Handeln. Das im Bekenntnisakt gegebene Versprechen umfaßt beides. Es setzt also die moralischen und die intellektuellen Tugenden voraus.

Die täglichen individuell privaten medizinischen Akte des Versprechens gegenüber jedem Patienten sind eingebettet im öffentlicheren Akt des Versprechens oder des Bekenntnisses bei der ärztlichen Approbation. Die Gelöbnisse mögen heute inhaltlich deutlich voneinander abweichen, aber ihre symbolische und existentielle Bedeutung bleibt die gleiche (Orr, Pang, Pellegrino, and Siegler 1997). Ärztliche Berufs-Gelöbnisse sind öffentliche Selbstverpflichtungserklärungen, das erworbene medizinische Wissen nicht für selbstsüchtige Eigeninteressen einzusetzen. Mit diesem Gelöbnis tritt, wer die medizinische Ausbildung abgeschlossen hat, in den Beruf ein. Der Ausbildungsabschluß als solcher macht aus dem Kandidaten noch keinen professionellen Arzt.

Allerdings weckt nach der Teilnahme an der öffentlichen Erklärung jeder Arzt in der Öffentlichkeit und im sozialen Umfeld Erwartungen. Schon der Kandidat kann sich nicht auf innere Vorbehalte berufen, die er gegenüber dem Versprechen hegt, das er ablegen soll. Es bindet auch ihn, es sei denn, er setzt sich von seinen Kollegen ab. Und zwar öffentlich. Dann muß er seinen Dissens offenbaren, so daß er nicht für jemand gehalten wird, der gebunden ist, sein Wissen zum Wohl der anderen zu nutzen.

h) Moralische Tugenden, die der Bekenntnisakt mit sich bringt

In seiner existentiellen Notlage bleibt dem Patienten gar nichts anderes übrig als dem Arzt charakterlich zu trauen. Er mag Referenzen suchen, nach der Reputation oder anderen Auskünften fragen, am Ende muß der Patient darauf vertrauen, daß mit Blick auf sein Wohl der Arzt es gut macht. Das wiederum berechtigt den Arzt nicht zu autoritärem Paternalismus. Vielmehr erlegt es ihm die Pflicht auf, seine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen. Vertrauenswürdigkeit ist eine Tugend, die der Bekenntnisakt und die Umstände, unter denen er vollzogen wurde, mit sich bringt: eine zentrale und unverzichtbare ärztliche Tugend.

Was heißt "Tugend, die der Bekenntnisakt mit sich bringt"? Gemeint ist es in dem Sinne, wie eine Schlußfolgerung aus den Prämissen folgt. Aus dem realen Vollzug des Bekenntnisaktes können bestimmte Tugenden gefolgert werden. Erweisen sie sich nicht, war der Bekenntnisakt sinnlos. Eine solche Ableitung gilt auch für andere Tugenden, die zur Erreichung des im Arzt-Patient-Verhältnis inhärent Guten erforderlich sind. Zu den wichtigsten gehören Wohlwollen, ein angemessenes Maß an Selbstlosigkeit, intellektuelle Redlichkeit, Empathie, Mut und Demut. Jede dieser Tugenden disponiert den Arzt so zu handeln, daß das für den Patienten Gute unter den gegebenen Bedingungen seiner physischen, physiologischen und emotionalen Verfassung im höchstmöglichen Grade erstrebt wird.

Wohlwollen beispielsweise geht über Nichtschaden weit hinaus. Nichtschaden ist das blanke Minimum, das moralische Verantwortlichkeit verlangt,. Es ist sozusagen nur das, was das Gesetz verlangt. Wohlwollen verlangt auch den Einsatz für das Wohl des Patienten, wenn einmal das Eigeninteresse des Arztes zurückstehen muß, wenn damit für ihn etwa ein gewisser Verlust an Zeit, Annehmlichkeit oder Geld verbunden ist. Nicht absoluter Altruismus ist hier gefordert, aber doch mehr als jemandem zuzumuten ist, der keinen professionellen Anspruch erhebt.

Ähnliches gilt für die intellektuelle Redlichkeit. Sie verlangt, die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens anzuerkennen. Nur dann können Patienten sich wirklich an einer Entscheidung beteiligen und den "informed consent" äußern, informiert zustimmen.

Die Tugend der Mitleidsfähigkeit oder Empathie ist in der persönlichen Zuwendung gefordert. Empathie verändert die Art der Zuwendung. Man versetzt sich selbst in die Lage des Patienten und nimmt Anteil an am Gefühl der Einzigartigkeit seiner mißlichen Situation.

Mut braucht der Arzt um klarzustellen, daß die Behandlung nicht beeinträchtigt wird durch die Furcht vor Ansteckung. Oder wenn es darum geht, für den Patienten einzustehen gegen Widerstände von Institutionen der Gesundheitspolitik oder seitens der Verwaltung, die man dem Patienten gegenüber für ungerecht hält - und wenn man dann wegen dieses Eintretens für ihn selbst Kritik einheimst.

Demut verhindert die Versuchung zu glauben, die Riesenmacht der Medizin, ob um zu heilen oder zu schaden, sei dazu da, das Selbstbild, die Interessen oder den Stolz des Arztes zu nähren. Demut erkennt die Begrenztheit der ärztlichen Kunst an und ist das Antidot zur Unart ärztlicher Arroganz, die im Patienten den Menschen übersieht.

Eine weitere, im heute eher selbstsüchtigen Klima wesentliche Tugend ist das Zurückstellen des Eigeninteresses, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Ärzte verwalten medizinisches Wissen treuhänderisch. Ihnen ist ein  gesellschaftliches Mandat übertragen, das ihnen, schon ehe sie voll ausgebildet waren, erlaubte, menschliche Körper zu zerschneiden, an der Pflege von Patienten teilzunehmen und Behandlungen vorzunehmen, wenn auch unter Aufsicht. Obwohl die Teilnahme von Studenten und Praktikanten durchaus die Patientenfürsorge belasten, den Patienten Unannehmlichkeiten bereiten und die Morbität erhöhen kann. Die Fürsorgeverantwortung gegenüber den Kranken ist deshalb eine der Gesellschaft geschuldete Verpflichtung. Sie gehört zu der gesellschaftlichen Vereinbarung - als  Antwort auf die öffentlichen Zustimmung zum klinischen Ausbildungsauftrag.

Das dürften wichtigsten moralischen Tugenden sein. Sie sind in fast jedem Fall gravierender Krankheit gefordert, wenn das dem klinischen Betrieb inhärente Gute erreicht werden soll (Pellegrino and Thomasma 1993). Noch weitere Tugenden treten zutage, wenn der Arzt über die Tugend praktischer Klugheit oder phronesis verfügt.  Damit aber betreten wir schon das Feld der intellektuellen Tugenden. Sie sind maßgebend für rein medizinisch gesundes, sicheres und kompetentes Entscheiden und Handeln. Diese Tugenden disponieren zur Wahrheit. Heute sprechen einige deshalb von "epistemologischen" Tugenden (Zagzebski 1996; Hockaway 1994).

i) Die intellektuellen Tugenden - das berufliche Tun und die Kunst des Berufs

Aristoteles und nach ihm Thomas von Aquin haben die enge Verbindung zwischen dem Wahren und dem Guten herausgestellt. Für Aristoteles gibt es keine Willensentscheidung "...ohne Verstand und Denken einerseits und sittlichen Habitus andererseits. Denn richtiges und verkehrtes  Handeln ist ohne Denken und ein Verhältnis zur Sittlichkeit unmöglich" (NE 1139a, 33-35).

Aristoteles listet fünf intellektuelle Tugenden auf, die auf die Wahrheit bezogen sind: "...Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Verstand" (NE 1139b, 16-18).

Bei diesen Wörtern haben sich seit Aristoteles’ Zeiten gewisse Bedeutungsverschiebungen ergeben (Ross 1959: 209-215). Mit Wissenschaft gemeint war i.S. induktiven, schlußfolgernden Denkens "das Maß an Fähigkeit zu beweisen" (NE 1139b, 31). Kunst ist auf das Herstellen gerichtete Vernunft: die Kunst des Hervorbringens (NE 1140a, 1-23). Gemeint ist kunstfertige Produktion (poiesis - Anm. d. Üb.), im Gegensatz zum Handeln (praxis - Anm. d. Üb.). Zum richtigen Handeln disponiert die Klugheit oder phronesis: das Vermögen, sich für das Tun zu entscheiden, welches das Leben gut und glücklich macht (NE 1140a, 24-30; b, 1-30).

Für Aristoteles leuchtet der intuitiven Vernunft die universale Wahrheit von selbst ein, während die Tugend der theoretischen Vernunft, nämlich Weisheit und Verstehen, für die höchste Wissenschaft disponiert, die sich auch mit den "höchsten Dingen" beschäftigt. Im Unterschied zur Weisheit ist die Klugheit die Tugend der praktischen Vernunft, die sich mit dem Handeln beschäftigt (NE 1141a, 1-15).

Thomas von Aquin listet die intellektuellen Tugenden, Aristoteles folgend, so auf: Weisheit, Wissenschaft, Kunst, Verstehen und Klugheit. Sie sind keine moralischen Tugenden, sondern die Tugenden des spekulativen Intellekts zur Erfassung von Wahrheit. Intellektuelle Tugenden mag jemand besitzen und sie gleichwohl nicht zum Guten einsetzen (S.T. I-II, Q 57 art.1, 2). Thomas nimmt eine sorgfältige Unterscheidung zwischen intellektuellen und moralischen Tugenden vor (S.T. I-II Q. 58), legt aber wie Aristoteles besonderen Nachdruck auf die intellektuelle Tugend der Klugheit, d.h. der praktischen Weisheit (bei Aristoteles phronesis). Für Kliniker sind die intellektuellen Tugenden insgesamt wichtig für die technische Qualität der auf das Gute gerichteten notwendigen Behandlungsmaßnahmen. Die Tugend, auf die es für den Kliniker aber entscheidend ankommt, ist die Klugheit. Thomas: "Der Grund liegt darin, daß die Klugheit die rechte auf das Tun gerichtete Vernunft ist, jedoch nicht etwa nur im Allgemeinen, sondern auch im Besonderen.." (S.T. I-II Q 58, art. 5).

Die Klugheit verbindet zugleich die intellektuellen mit den moralischen Tugenden, so Thomas von Aquin: "Deshalb muß es in der Vernunft eine verstandhafte Tugend geben, durch welche die Vernunft dazu vervollkommnet wird, daß sie sich recht verhält zu den Mitteln, die zum Ziel führen. Und diese Tugend ist die Klugheit" (S.T. I-II Q 57, art. 5).

Im klinischen Betrieb ist die Klugheit die zentrale intellektuelle Tugend. Aristoteles definiert, daß sie "ein untrüglicher Habitus vernünftigen Handelns ist in Dingen, die für den Menschen gut oder schlecht sind." (NE 1140b, 4-5).

Innerhalb der engeren Grenzen einer rollen- oder berufsbezogenen Ethik, so in der Medizin, wäre somit die Klugheit der Vernunft-Habitus, sowohl in technischer als auch moralischer Hinsicht im Dienst des für den Patienten Guten zu handeln. Die Klugheit disponiert den Kliniker, die klinischen Daten zu erheben, das Besondere jeden Falles auf seine moralischen Implikationen abzuklopfen, eine dementsprechende Rangordnung unter den anderen Tugenden aufzustellen sowie in komplexen, zuvor problemlosen Situationen die rechten Mittel zu wählen für eine moralisch einwandfreie Lösung. Klugheit verhilft zu moralisch rechtem klinischem Urteil.

Somit folgen die individuellen Tugenden, und zwar sowohl die intellektuellen als auch die moralischen Tugenden, aus dem Grundakt der Medizin: dem Versprechen professioneller Kompetenz. Sie lenken das ärztliche Handeln auf das für den Patienten medizinisch Gute, befähigen uns  zu den richtigen ordnungsgemäßen Schritten und übersetzen, dem Wohl dieser konkreten Person dienend, die rechte Wertorientierung in die Praxis. Die Klugheit ist das Bindeglied zwischen den intellektuellen Tugenden, den moralischen Tugenden und dem Bekenntnisakt. Die Klugheit führt den Verstand zu den anderen Tugenden hin. Und sie gewährleistet das Verschmelzen des technisch Korrekten und moralisch Guten zur Einheit - so Aristoteles -  "...weil die Willenswahl ohne Klugheit und ohne Tugend nicht recht geraten kann. Diese lässt uns das Ziel bestimmen, jene die Mittel dazu gebrauchen" (NE 1145a, 4-6).

III. Folgerungen für die anderen helfenden Berufe

Das in diesem Beitrag verwendete begriffliche Schema zur Neubestimmung der medizinisch-ärztlichen Tugenden unter dem Gesichtspunkt des für den Patienten Guten und des Bekenntnisses zum Arztberuf ist auch über die Medizin hinaus anwendbar. Nach dem gleichen Schema enthält eine spezifische Definition der Zwecke und Ziele des jeweiligen Berufs auch schon die Bestimmung des Guten etwa für den Mandanten des Anwalts, für den Schüler des Lehrers, für die dem Priester anvertrauten Seele. Wie in der Medizin ergeben sich auch hier schon aus der Zweck- und Zielbestimmung des jeweiligen Berufs konkrete berufliche Verpflichtungen. Jeder dieser Berufe hat seinen speziellen Akt des Versprechens, der um Vertrauen wirbt und daher bestimmte Tugendverpflichtungen mit sich bringt. Jeder hat eine dem Berufszweck und seiner Ausübung inhärente Moralität.

Justiz, Priestertum, Lehrberuf und Medizin haben eine phänomenologisch gemeinsame Grundlage: Sie alle haben es mit Menschen in existentiellen Notlagen zu tun. Mit Menschen, die abhängig sind, Angst haben, sich bedrängt fühlen, denen etwas Wesentliches zum Vorankommen fehlt. Im Fall der Medizin fehlt Gesundheit, im Fall der Justiz Recht oder Gerechtigkeit, im Fall der Schule Wissen, im Fall der Religion die Verbindung zu Gott. In solch existentiellen Notlagen sind Menschen höchst verletzlich und ausbeutbar. Nun werden sie durch den jeweiligen beruflichen Akt des Versprechens eingeladen, dem Inhaber des Berufs zu vertrauen. Mehr noch: Ihm muß jeder einzelne vertrauen, wenn er von ihm Hilfe oder Heilung will. In jedem Einzelfall könnte ein vertrauensunwürdiger Berufsvertreter die Abhängigkeit und Verletzlichkeit des Hilfesuchenden auch ausnutzen für eigenen Machtzuwachs, für Geld oder Prestige. Letzter Halt und Garant leiblicher und psychischer Integrität ist in jedem Fall für den Abhängigen einzig der Charakter des Berufsinhabers. Ziel und Zweck solcher beruflicher Tätigkeit ist deshalb - und das gilt in allen Fällen -einzig das für den Hilfesuchenden Gute.

Wie im Arzt-Patient-Verhältnis hat auch in jedem der anderen helfenden Berufe "das Gute" vier Elemente oder Ebenen: (1) die Ebene des technisch Guten, (2) das Gute, wie es der Hilfsbedürftige für sich sieht, (3) das grundsätzlich für ein erfülltes Menschenleben Gute, (4) das spirituell Gute. Jeder der Berufe widmet sich vorrangig dem Guten auf der einen oder anderen der vier Ebenen. Aber unabhängig vom seiner speziellen Blickrichtung behält jeder der Berufe auch das Gesamtwohl der Person, der er dient, im Blick.

Für den Anwalt beispielsweise steht im Vordergrund, daß sein Mandant Recht bekommt. Gerechtigkeit ist ein für den Mandanten zur Erfüllung seines Menschseins notwendiges Gut. Dieses Ziel kann der Anwalt nicht erreichen, ohne sich auf der ersten Ebene zu bewähren. Er muß zuvörderst in Rechtssachen kompetent sein. Er muß die Verfahren und Techniken zur Durchsetzung seines Casus vor Gericht, in Verhandlungen und bei Vernehmung von Zeugen voll beherrschen. Das ist zwar unverzichtbar, um ein richtiges Urteil zu bekommen, aber für ein gutes Urteil nicht hinreichend. Hierzu muß der Anwalt auch den anderen Wertebenen des Mandanten gerecht werden.

Nehmen wir Ebene 2: Was hält der Mandant selbst in seinem Fall für gerecht? Inwieweit ist er zum Risiko bereit, auch zu verlieren? Oder dazu, das Verfahren auszusetzen? Oder ist er vielleicht etwa rachsüchtig?

Auf Ebene 3 hängen Erfolg oder Versagen des Anwalts davon ab, inwieweit er für seinen Mandanten das Menschenrecht der Gerechtigkeit, Freiheit, Rechtfertigung erkämpft oder aber, wenn er schuldig ist, ein faires Urteil erstreitet. Auf Ebene 4 schließlich muß, soweit beim Kampf des Mandanten um sein Recht sein religiöser oder spiritueller Glaube eine Rolle spielt, dieser ernstgenommen und beachtet werden. Möglicherweise verzichtet der Mandant ja im Namen der Nächstenliebe auf Forderungen an seinen Gegner. Wie in der Medizin müssen also auch in einer moralisch einwandfreien Anwalt-Mandant-Beziehung alle vier Ebenen des angestrebten Guten in Rechnung gestellt werden.

Ähnliches gilt für den Lehrberuf. Für den Lehrer als Besitzer des Wissens und Könnens steht Ebene 3 im Vordergrund. Wissen und Wahrheit sind für die menschliche Entwicklung und Erfüllung notwenige Güter. Um Schülern zum Erwerb dieser Güter  zu verhelfen, muß der Lehrer gemäß Ebene 1 über das Fachwissen und -können auf dem Gebiet verfügen, das er unterrichten will. Ferner muß er die Didaktik, die Quellenlage und die technischen Mittel beherrschen, ohne die die Wissensübermittlung nicht gelingt. Ebene 2 verlangt, daß der Lehrer auch bis zu einem gewissen Grad eingehen auf die Interessen, Lernmethoden, Arbeitseinstellungen und auf den Ehrgeiz der Schüler voranzukommen. Im Interesse der Schülerwohls kann der Lehrer auch genötigt sein, die Interessen der Schüler, wenn sie dem Lernziel im Wege stehen, in gewissem Umfang umzulenken, zu bremsen oder in andere Richtungen zu orientieren. Ebene 3 verlangt vom Lehrer i.S. des grundsätzlich für Menschen Guten, einen Umgang mit den Schülern, wie er ihrer Würde als Personen entspricht: fair, redlich, usw. Ebene 4 schließlich: Spirituelle Anlagen müssen respektiert werden, sich entwickeln dürfen und mit der mehr technischen oder akademischen Ausbildung in Einklang gebracht werden.

Das Verhältnis zwischen dem Priester und den ihm seelsorglich Anvertrauten wird unter moralischem Aspekt von Ebene 4 geprägt, der Ebene des spirituell Guten. Das ist nämlich, was ein Beichtkind vom Beichtvater erwartet: Rat, was seine Beziehung zu Gott betrifft; Wiederversöhnung mit Gott nach der Sünde; Wege, um im geistlichen Leben zu wachsen; Antworten auf Zweifel, wie moralische Fragen im Licht von Offenbarung und kirchlicher Lehre zu lösen sind, wie man dem göttlichen Willen gemäß sich dem Tod oder etwaigen Schicksalsschlägen gegenüber einstellen soll. Für religiöse Menschen hat das geistliche Wohl Vorrang vor allen andern Ebenen des Guten. Aber deshalb können nicht die anderen Ebenen beiseite gelassen werden. Sie gehören auch zum Gesamtwohl dessen, der geistliche Hilfe sucht. Um die notwendige Synthese zuwege zu bringen, kann es angebracht sein, daß Arzt, Priester und Anwalt eng zusammenarbeiten.

Jedenfalls muß auch der Priester das auf Ebene 1 verlangte Können beherrschen, das die Ziele seiner beruflichen Tätigkeit voraussetzen. Seine priesterliche Berufung gibt sie ihm auf. Um wirksam guten geistlichen Rat zu erteilen, muß er theologisch und pastoral gut gebildet sein. Dabei muß er - Ebene 2 - die Eigenart seines Gegenübers berücksichtigen, sein Wertebild, seine spezielle geistliche Not, seine Lebensumstände, seine besondern Neigungen in Sachen religiöses Charisma, Weise des Betens, Lebensgestaltung. usw. Sodann hat der Priester auch - Ebene 3 - das subjektive menschliche Wohl des ihm Anvertrauten zu schützen: Wahrung des Beichtgeheimnisses, Hilfe dabei, über das geistliche Wohl das zeitliche nicht zu vernachlässigen und beides zu harmonisieren, ihn als Kind Gottes in seiner vollen Würde ernstnehmen, usw.

In jedem Beruf haben die vier Ebenen oder Aspekte des für den Betroffenen Guten eine gewisse Reihenfolge oder hierarchische Ordnung. Das spirituell Gute steht für viele beispielsweise ganz oben. Erst dann folgen absteigend das grundsätzlich menschlich Gute, das nach eigener Einschätzung Gute und, erst auf der untersten Stufe, das gemäß dem jeweiligen Beruf technisch Gute. Moralische Entscheidungen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit sind "richtig", wenn sie der techné des Berufs auf Ebene 1 genügen. Um moralisch "gut" zu sein, müssen sie auch den Anforderungen der anderen Ebenen entsprechen. In der Rangfolge der Ebenen setzt jedermann seine eigenen Prioritäten.

Im Ergebnis verbindet die vier "helfenden Berufe" ein gemeinsames Ziel: der Einsatz für das Wohl konkreter Menschen in verwundbarem Zustand, die auf ihre Fachkenntnis angewiesen sind. Zu einem solchen Einsatz bekennen sich alle vier. Erst hierdurch wird der jeweilige Einsatz zum Beruf. In allen vier lädt das Bekenntnis zum Beruf zum Vertrauen ein. Für alle vier gilt es, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, wenn der berufliche Zweck erfüllt werden soll. Aus dieser Forderung leiten sich bestimmte zur Erfüllung des Zwecks nötige Tugenden ab. Ohne sie ist das Berufsversprechen nicht haltbar. Im öffentlichen wie im privaten Bekenntnis zum Beruf sind in allen vier Fällen sowohl die intellektuellen als auch die moralischen Tugenden bereits vorgegeben. Damit ist gewährleistet, daß die getroffenen Entscheidung und durchgeführten Maßnahmen technisch korrekt und moralisch gut sind.

Mindestens berufsbezogen ist, wie gezeigt, die Tugendlehre also keineswegs gefangen in einem eisernen Käfig logischer Redundanz. Sie hat ihren Ausgangspunkt im privaten oder öffentlichen Bekenntnis zum Beruf, im Akt der Treuebindung an ein Ziel, an das für den Patienten oder je nachdem Mandanten, Schüler oder religiös Gläubigen Gute. Dieses Gute ist der terminus a quo. Von Anfang ist dieses Ziel zugleich das Gute des jeweiligen Berufs: der terminus ad quem. Es gibt also keine zirkuläre Verfangenheit, vielmehr eine eindeutig lineare Zielgerichtetheit. Die moralisch zielorientierte, teleologische Bewegung gibt der Berufsethik ihre Kraft. Soziologische Definitionen beschreiben einen Beruf von außen. Die moralischen Definitionen hingegen sind dem Wesen eines jeden Berufs inhärent und ihm selbst

zu entnehmen.

IV. Einige Einwände

Der hier entwickelte Gedankengang zu den Tugenden in der medizinischen Praxis folgt aus einer Philosophie der Medizin, die ich 1976 (Pellegrino 1976) konzipiert und in der Folgezeit in einer Reihe von Büchern und anderen Schriften gemeinsam mit David Thomasma weiterentwickelt habe (Pellegrino and Thomasma 1981, 1987, 1993).

Eine Ethik in der Medizin auf eine Philosophie der Medizin zu gründen bedeutet nicht Fixierung auf eine auf die Medizin beschränkte Ethik oder Philosophie. Auch nicht, daß jeder Beruf und jede Kunst ihrer eigenen Ethik bedürften. Worauf es vielmehr ankommt, ist, daß am Anfang die zugrundeliegenden Sachverhalte und Besonderheiten der Arzt-Patient-Begegnung und des Heilberufs erfaßt werden. Diese Sachverhalte machen die Medizin zu der spezifischen menschlichen Tätigkeit, die sie ist und von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Das macht die Sache zum Gegenstand spezieller Ethik.

Ist die Natur - das eidos - der Arzt-Patient-Begegnung phänomenologisch erfasst und ist das Ziel definiert, das Wohl des Patienten bestmöglich zu verwirklichen, können bestehende Ethik-Theorien die spezifischen Tugenden, Aufgaben und Verpflichtungen aufzeigen, die hierzu vom Arzt und vom Patienten verlangt sind. Hier steht das Prinzip im Mittelpunkt, daß Versprechen zu halten sind, näherhin das Versprechen, das mit dem besonderen Akt des Bekenntnisses zum Beruf gegeben wird.

Zugegebenermaßen kombiniere ich eine klassische Tugend- und Zwecklehre mit Elementen eines modernen phänomenologischen Realismus. Ich beginne aber nicht mit spezifisch normativen Vorgaben, wie es bei geläufigen Ethiktheorien der Fall wäre. Kants Pflichtethik würde uns sogleich auf den kategorischen Imperativ verweisen, der Utilitarismus auf den Kalkül des größten Nutzens, der Konsequenzialismus ausschließlich auf die Folgen des Handelns, der soziale Konstruktivismus und die Diskursethik auf den Konsens, usw. Mein Ansatz schließt keine dieser Theorien per se aus, kann sie vielmehr durchaus hier und da nutzen. Allerdings suche ich mir unter den bestehenden Theorien diejenige aus, die auf die existentielle Wirklichkeit des Arzt-Patient-Verhältnisses am besten paßt, mit anderen Worten: welche den moralisch Handelnden auf den nächsten Weg zum klinischen Ziel bringt.

Dieser Ansatz geht aus von den Phänomenen der realen medizinischen Welt. Aus diesen Phänomenen ergibt sich, welche Normen am ehesten richtiges und gutes Handeln leiten. Das ist nicht dasselbe wie aus bloß faktischer Weltwirklichkeit abzuleiten, welchen Normen man folgen sollte. Dies hieße dem naturalistischen Fehlschluß erliegen, nämlich vom "Sein" aufs "Sollen" zu schließen. Das existentielle "Ist" meines Ansatzes bezieht sich auf die Natur der Dinge in ihrer phänomenologischen Realität.

Daraus ergibt sich nicht per se ein moralischer Leitsatz, beispielsweise daß Versprechen zu halten sind.

Ich gehe davon aus, daß es bestimmte moralische Grundsätze, Tugenden, Pflichten, usw., schon gibt. Sie sind, abgeleitet aus schon vorhandenen Moraltheorien, vorgegeben. Ich erfinde keine mit besonderer Paßform auf die Phänomene der klinischen Medizin. Vielmehr versuche ich, aufgrund einer Betrachtung der Phänomene und der Prüfung, welche Ethiktheorien ihnen gerecht werden, herauszufinden, welche Grundsätze, Pflichten oder Tugenden speziell geeignet und nötig sind, um das telos medizinischen Handelns zu  verwirklichen. So ergibt sich der moralische Gehalt des ärztlichen Berufsethos aus dem Phänomen des Versprechensaktes. Aus dem Akt des Versprechens ergibt sich naturgemäß die Pflicht, dem Versprechen treu zu bleiben.

1994 begründete Daryl Koehn die Berufsethik mit gesellschaftlicher Inpflichtnahme und öffentlichem Versprechen. Sie hätten die Pflichten zur Folge. Die Merkmale üblicher soziologischer Beschreibung eines Berufs als Quelle seines Moralstatus wies Koehn zurück. Wie ich betonte er den Bekenntnisakt. Aber da gibt es beachtliche Unterschiede. Koehns Ansatz liegt insbesondere keine Philosophie der Medizin zugrunde. Es gibt da weder eine Verbindung zur Tugendlehre, ob klassisch oder modern, noch zu Zielen oder Zwecken in irgendeinem teleologischen Sinne. Seine Analyse läuft eher auf eine gesellschaftsvertragliche Grundlegung beruflicher Ethik hinaus. Seine Arbeit ist ein wertvoller Beitrag zum besseren Verständnis, was Beruf und Professionalität bedeutet. Er liefert aber meines Erachtens keine hinreichende Grundlage für eine ethisch inhaltliche Bestimmung des Berufs.

Einige zeitgenössische Ethiker würden vermutlich gegen die Folgerungen sowohl von Koehn als auch von mir und Thomasma einwenden, daß sie sich aus dem Wesen des Bekenntnisaktesergeben. Sie betrachten die genannten Tugenden als überflüssige Zutat, als Überforderung über das hinaus, was Tugend oder Pflicht eigentlich verlangen. McKay (2002) meint, medizinisch tätig zu werden bedeute angesichts der Risiken, die der Arzt auf sich nimmt, eine "unberechtigte" Überforderung. O’Neill (1996) spricht noch von einer Überforderung anderer Art: Nicht die übernommenen Pflichten überforderten die Ärzte, vielmehr das geforderte Maß der Erfüllung dieser Pflichten, wenn es das Maß gewöhnlicher Pflichterfüllung überschreitet.

Downie (2002) andererseits sieht in der Arbeit des Arztes weder Tugend noch Altruismus überhaupt. Insofern sei auch keine Überforderung möglich. Es gehöre einfach zur Job-Beschreibung des Doktors, im besten Interesse des Patienten zu handeln. Ähnlich Veatch mit seiner gewohnten Skepsis gegenüber Tugenden und der Fähigkeit des Arztes, irgendwelche Erkenntnisse über so etwas wie das für einen Patienten Gute zu haben. Entsprechend bezweifelt er auch jegliche wirkliche Bedeutung ärztlicher Gelöbnisse.

Viele Ärzte werden mit meinen hier vorgetragenen Überlegungen zwar im Grundsatz einverstanden sein, aber einwenden, sie seien "idealistisch", im Medizinbetrieb unter den kommerzialisierten Bedingungen des real existierenden Gesundheitssystem jedenfalls unmöglich einzuhalten. Sie paraphrasieren dann Macchiavellis Rat an seinen Prinzen, daß man nicht tugendhaft sein kann, wenn alle andern es nicht sind.

Kritiker des Medizinbetriebs würden vermutlich sagen, meine Überlegungen seien unrealistisch, denn auch Ärzte seien in erster Linie vom Eigeninteresse motiviert. Von Tugenden und dem für den Patienten Guten zu sprechen heiße, ethischen Fantasien zu frönen.

Diese Einwände mögen sich als "pragmatisch" oder "realistisch" zusammenfassen lassen. Sie laufen aber auf den Versuch hinaus, die moralische Perspektive des einzelnen oder der Gesellschaft auf selbstsüchtige Eigeninteressen zu verkürzen. Es sind Einwände moderner Hobbesianer, die allerdings dennoch dessen Leviathan zurückweisen würden - als untaugliche Einschränkung der Erfüllung eigener selbstsüchtiger Interessen. Nichts davon schafft die Tatsache aus der Welt, daß der Charakter des Arztes der Filter ist, durch den die moralischen Entscheidungen über die Behandlung eines Patienten hindurch müssen. Es ist keine Überforderung, die Wirklichkeit der klinischen Arzt-Patient-Begegnung voll wahrzunehmen und im beruflichen Bekenntnisakt das darin naturgemäß enthaltene Versprechen anzuerkennen - einschließlich der damit versprochenen Tugendverpflichtung. Sich an Versprechen treu zu halten ist eine höchst fundamentale ethische Pflicht. Sie kann deshalb weder überfordern noch ein bloß wünschenswerter Teil einer Job-Beschreibung sein.

Der berufliche Bekenntnisakt ruft nach bestimmten Tugenden, die zur Erfüllung der moralischen Zwecke der Medizin entscheidend sind. Ohne sie wird der Arzt nicht nur zum bloßen Techniker, sondern auch zum Ausbeuter der Verwundbarkeit des Patienten. Arztsein heißt nicht Privilegien in Anspruch nehmen, vielmehr für das Wohl anderer moralisch Verantwortung übernehmen.

Ergebnis

Moralisches Gravitationszentrum der Berufe ist der Akt des Bekenntnisses zum Beruf, die öffentliche und private Erklärung hinreichenden Fachwissens zur Erreichung des für diejenigen Guten, an die die Erklärung gerichtet ist. Auf dieser Prämisse beruhen Erwartungen, deren Enttäuschung Nichteinhaltung eines feierlichen Versprechens darstellt und die Medizin anderen Zwecken unterwirft als ihr vorgegeben sind.

Im Mittelpunkt einer Philosophie der Berufe steht deren Bekenntnisakt. Auf der Grundlage einer solchen Philosophie kann eine wirklichkeitsnahe und gesunde Ethik der Professionalität aufgebaut werden.

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1 vgl. Beauchamp u. Childress, 2001 (Anm. d. Übersetzers)

1a Engl "caring ethics”: eine insbes. für Pflegeberufe vertretene Situationsethik mit Nachdruck auf Zuwendung und Gefühl

2 i.S. des Unterschieds im Griechischen von poiesis und praxis (Anm. des Übersetzers).

3 In Deutschland wird der Begriff Behandlungsabbruch zunehmend ersetzt durch "Änderung des Behandlungsziels” im Sinne des Übergangs zur palliativen Behandlung. (Anm. d. Übersetzers).

4 in der deutschen Ausgabe: MacIntyre Alasdair, Der Verlust der Tugend, Frankfurt NewYork (Campus) 1987, 255 f.

5 Ebd., 251 f.

Jörg-Dietrich Hoppe: Die Ärzteschaft im Sozialstaat - selbstbestimmt oder fremdbestimmt?

Nach den sehr philosophischen Ausführungen Herr Professor Pellegrino über fundamentale ethische Aspekte werde ich  meinen Beitrag mehr politisch aufziehen. Ich werde darstellen, in welcher Situation wir uns befunden haben, in welcher Position wir derzeit sind und was uns noch bevorsteht. Dabei wird sich zeigen, wie wir uns als Ärztinnen und Ärzte werden bewegen müssen und wie wir selbst dazu beitragen können, dass es - um es vorsichtig zu sagen - nicht gerade so schlimm kommt.

Bisher haben wir in Deutschland ein sehr freiheitliches Gesundheitswesen. Es basiert auf verbrieften Freiheitsrechten. Es gibt Niederlassungsfreiheit für die Gesundheitsberufe, Patienten haben freie Arztwahl und die Versicherten seit einigen Jahren freie Krankenkassenwahl. Die Ansprüche der Patienten an das System sind nach wie vor einklagbar. Darin unterscheiden wir uns grundlegend von anderen Ländern, wo man, wenn Leistungen verweigert werden, sein Recht eben nicht vor einem Sozialgericht geltend machen kann.

Systemsteuerung von oben - Schritt für Schritt

Allerdings hat sich auch in Deutschland etwas geändert. Im Zuge der langjährigen Debatte über die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen kam es sukzessive zu einer Einengung dieser Freiheiten. Es gab Einschnitte, Stück um Stück, ohne dass das richtig bemerkt wurde. Der frühere Bundesausschuss von Ärzten und Krankenkassen, der das Recht hatte festzulegen, was die gesetzliche Krankenversicherung im ambulanten Sektor bezahlt und was nicht, setzte dem Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) klare Grenzen.

Einen echten Leistungskatalog hat es bisher in Deutschland nicht gegeben. Die Patienten haben als Vertragspartner einer Krankenversicherung, einer gesetzlichen oder einer privaten, Ansprüche an diese Versicherung. Die Ärztinnen und Ärzte haben das Recht, mit diesen Ansprüchen umzugehen, genau so wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist natürlich eine ärztliche Angelegenheit, die Ansprüche eines Patienten zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren. Das ergibt sich aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis und war in der Vergangenheit eine funktionierende Angelegenheit. Die Summe aller dieser Patient-Arzt-Interaktionen und der dabei erbrachten Leistungen stellte dann einen virtuellen Leistungskatalog dar.

Die Zeit dieser Art  Systemorganisation ist, wie wir noch sehen werden, wohl endgültig vorbei. Wir werden eine andere Struktur bekommen. Das ist politisch gewollt. Die Politik folgt ihren Beratern, die im wesentlichen aus dem Feld der sogenannten Gesundheitsökonomie stammen. Die Gesundheitsökonomie hat in anderen Ländern, wie den Vereinigten Staaten von Amerika, den Niederlanden und anderen Nachbarländern, zumal in den skandinavischen Ländern, schon früh eine stärkere Stellung eingenommen. Mittlerweile dominiert sie überall. Es wird nicht mehr als volkswirtschaftlich sinnvoll empfunden, daß Patient-Arzt-Entscheidungen zu Lasten einer Gemeinschaftseinrichtung wie der gesetzlichen Krankenversicherung so frei bleiben können, wie dies in Deutschland bisher der Fall war. Hier wünscht man sich erheblich mehr Steuerung und Einfluss auf das Leistungsgeschehen.

Dieser Mentalitätswechsel in der Politik hat - noch in sehr kleinen Schritten -  im Jahre 1991/92, in der Seehofer-Ära, eingesetzt. Ein wichtiger Parameter des Gesundheitswesens, nämlich die Niederlassungsfreiheit in freier Praxis, wurde eingeschränkt durch die sogenannte Bedarfsplanung. Darauf folgte die durch das damalige Gesundheitsreformgesetz festgelegte Pflicht für alle Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Sektor, in der kassenärztlichen Versorgung eine Facharztbezeichnung nachzuweisen. Ärzte konnten demzufolge in diesem Sektor ohne Facharztbezeichnung nicht mehr als praktische Ärzte tätig werden. Und die gesetzliche Krankenversicherung wurde aus der bis dahin festgefügten Situation einer rein solidarisch finanzierten, aber noch stark auf dem Boden des karitativen Gedankens arbeitenden Einrichtung, in einen nicht näher definierten Wettbewerb geschickt. Der Kassenwettbewerb wurde im Gesetz verankert. Das hat sich am Anfang noch relativ wenig, dann aber immer deutlicher auf das Gesamtsystem ausgewirkt. Auf die Folgen werde ich noch eingehen.

Aushöhlung des Vertrauens

Das Grundproblem der Finanzierung unseres Gesundheitswesens, das brauche ich hier nicht ausgiebig zu wiederholen, sind der demografische Wandel einerseits und die Möglichkeiten der Medizin andererseits. Das Angebot und die Inanspruchnahme werden immer größer und dadurch die Finanzierung des Ganzen immer problematischer. Weil das so erkannt worden ist, und weil die deutsche Bevölkerung mit unserem Gesundheitswesen in den 90er Jahren und auch noch zu Beginn des neuen Jahrzehnts bei allen Umfragen hochzufrieden war, und weil das Vertrauen in die Gesundheitsberufe bei der Bevölkerung sehr hoch war, ist eine Kampagne in Gang gesetzt worden, die den Sinn hatte, diese Grundeinstellung zu unserem Gesundheitswesen in der Öffentlichkeit zu erschüttern. Das ist auch weitgehend gelungen. Alle Beteiligten werden sich erinnern, dass wir am Ende der 1990er Jahre und am Anfang dieses Jahrzehnts eine intensive Debatte über das Thema Qualität in unserem Gesundheitswesen bekommen haben, die schließlich in die Behauptung mündete, das deutsche Gesundheitswesen biete als typische Merkmale Über-, Unter- und Fehlversorgung.

Was nicht gewürdigt wurde: Deutschland hat ein Gesundheitswesen, das praktisch eine Normalversorgung gewährleistet. Das Gesundheitswesen sei, hieß es nun, dadurch gekennzeichnet, dass eben zu viel und häufig das Falsche stattfinde. Sie kennen den oft zitierten Spruch: Wir bezahlen einen Mercedes und kriegen einen Golf. Das hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Begleitet wurde dieses kampagnenähnliche Vorgehen durch Korruptionsvorwürfe an die Adresse der Ärzte. Dies seien, hieß es, typische Merkmale des deutschen Gesundheitswesens. Auch in internationalen Vergleichen, mit einer allerdings sehr zweifelhaften wissenschaftlichen Basis, hatte das deutsche Gesundheitswesen eine ausgesprochen schlechte Position, so in den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation und der OECD. In der Weltgesundheitsorganisation lagen wir auf Platz 25 hinter Kolumbien. In der OECD wurden wir relativ weit nach hinten platziert, weil die Lebenserwartung unserer Bevölkerung, gemessen am Anteil der Aufwendungen für das Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt, zu kurz sei. Die besten Gesundheitssysteme in Europa müßten diesen Berechnungen zufolge Portugal und Griechenland haben, weil diese beiden Länder die langlebigsten Bevölkerungen haben.

Die OECD und die WHO haben mittlerweile von ihren Statistik-Denkmodellen Abstand genommen, weil ihnen klar geworden ist, daß das alles so nicht stimmen kann. Es hat aber nichts genützt. In unserem Land hat es den Boden bereitet für die Diskussion um eine fundamentale Neuordnung unseres Gesundheitswesens. Mit der haben wir es jetzt zu tun. Ein wesentlicher Grund für diese Situation, so wurde politiknah begutachtet, sei gewesen, daß insbesondere die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte als Schlüsselfiguren in unserem Gesundheitswesen unterqualifiziert seien. Das liege unter anderem daran, daß sie sich nicht regelmäßig fortbildeten. So wurde das nun intensiv, fast marketingartig in der Bevölkerung verbreitet. Es war schon merkwürdig, wie da Gegensätze aufeinander prallten: hier die veröffentlichte Meinung mit der Botschaft von der Unter- und Fehlversorgung, dort die Umfrageergebnisse aus der Bevölkerung, welche besagen: "Wir sind zufrieden, wir bekommen das, was wir möchten, wir fühlen uns geborgen, wir brauchen nicht zu warten wie in anderen Ländern".

Auf dem Boden dieser politischen Grundstimmung gedieh dann gleichwohl ein Politikwechsel, zu datieren an den Anfang dieses Jahrzehnts. Die neue Politik - und zwar von Regierung und Opposition, die gemeinsam diese Gesetzgebung getragen haben - lässt eindeutig erkennen, dass sie wesentliche Elemente steuerfinanzierter Gesundheitssysteme nach Deutschland übertragen will.

Zu Lasten des Patienten

Der wichtige Punkt hierbei ist, daß in solch steuerfinanzierten Gesundheitswesen der Patient gegenüber dem System keine Ansprüche hat. Ihm werden Leistungen zugeteilt und er muß mit dem Zugeteilten zufrieden sein. Wenn er mit dem Zugeteilten nicht zufrieden ist, dann hat er die Möglichkeit, vor den Petitionsausschuss oder andere Beschwerdeinstanzen zu gehen. Die können ihn anhören oder auch nicht. Aber auf jeden Fall hat er nicht wie bisher bei uns in Deutschland die Chance, Ansprüche an das System, die nicht befriedigt werden, einzuklagen. Und zwar bei Sozialgerichten. Nicht wenig von dem, was an Betreuung von Patienten in Deutschland gewährt wird, ist ja erst zum Anspruch geworden, weil ein Sozialgericht gesagt hat, daß diese oder jene Leistung, die an sich verweigert werden sollte, gewährt werden muß, entweder für einzelne Individuen oder für eine größere Population oder für alle, die betroffen sind.

Dieser Klageweg ist natürlich für jemanden, der durchsteuern will, was sich im Leistungsgeschehen abspielt, ein schlimmer Zustand. Denn damit ist seine Steuerungsmöglichkeit höchst begrenzt. Immer reden andere mit hinein. Also muss man sich etwas einfallen lassen, um dieses Instrument zu kappen. Wie das im Einzelnen geschehen soll, sage ich noch.

Ein zweiter Punkt: Das deutsche Gesundheitswesen unterscheidet sich von anderen Gesundheitswesen dadurch, daß wir neben der sogenannten Makroebene der Politik - jetzt benutze ich Ausdrücke von anderen Professionen - und der Mikroebene, der individuellen Patient-Arzt-Beziehung, eine sogenannte Mesoebene haben. Diese Mesoebene ist die Selbstverwaltung. Die Krankenkassen gehören zu dieser Selbstverwaltung, die Leistungserbringer gehören zu dieser Selbstverwaltung. In dieser Szene der Selbstverwaltung erfolgte unter politischen Vorgaben jahrzehntelang die Ausgestaltung der Abläufe in unserem Gesundheitswesen, die Feinjustierung. Unter ziemlich allgemeinen Vorgaben durch den Gesetzgeber hat diese Mesoebene selbständig agiert. Wenn man von oben durchsteuern will, muss man, damit diese Durchsteuerung gelingt, diese Mesoebene in eine andere Situation bringen.

Weg in die Staatsmedizin?

Am liebsten hätte die Politik in den Jahren 2002/03 die Mesoebene völlig ausgeschaltet. "Die Kartelle müssen abgeschafft werden!", hieß es allenthalben. Gemeint waren nicht die Kassen mit ihren exorbitant hohen Verwaltungskosten, sondern die Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie gehören zu den typischen Merkmalen dieser Mesoebene. Es handelt sich um Körperschaften des Öffentlichen Rechts, die - wie die Juristen sagen - für untergesetzliche Normgebung zuständig sind. Die Kassenärztlichen Vereinigungen existieren auf Wunsch des Staates unter gesetzlichen Vorgaben des Staates. Das gilt auch für die Strukturen. Sie ganz abzuschaffen, hätte die Entfernung der kollektiven Organisationsform dieser Leistungserbringungs-Einrichtungen bedeutet. Das war das Generalziel. Dazu ist es nicht gekommen. Die gesetzlich verordnete Organisationsreform der KVen hat aber dazu geführt, daß sie stärker als bisher vom Gestalter zum Verwalter von Ärzte-Interessen mutieren.

Die Idee zu dieser Neuordnung stammt aus der Beraterszene. Die Politik hat sie aufgegriffen, ohne die Folgen wirklich zu überschauen. Die Idee läuft darauf hinaus, unser Leistungsgeschehen staatlich zu steuern. Staatssekretär Dr. Klaus-Theo Schröder scheut sich nicht, den Ausdruck "Staatsmedizin" zu verwenden, selbst wenn man ihm sagt, welche trübe Vorstellung ein solches Wort beim Empfänger auslöst. Was darunter verstanden wird, sagt er nach wie vor: Jawohl, wenn etwas nicht so läuft, wie wir das wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass es so läuft, indem wir uns durchsetzen. Ebendies heißt ja Staatsmedizin: Der freiheitliche Charakter des Gesundheitswesen, geprägt durch Staatsferne einerseits und Selbstverwaltung andererseits, geht verloren.

Das wohl prägnanteste Beispiel für die Umsetzung dieser Strategie war die Idee des Staatsinstituts für Qualität. In Anlehnung an das National Institute for Clinical Excellence in Großbritannien (NICE) wollte die Regierung ein staatliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit weit reichender Steuerungsfunktion etablieren, sozusagen eine externe Einrichtung des Bundesgesundheitsministeriums, also eine staatliche Regierungsorganisation. Es sollte auch ein staatlicher Korruptionsbeauftragter ernannt werden. So etwas gibt es in keiner anderen Branche in Deutschland. Ich wüsste vielleicht Branchen, wo das nützlich wäre. Im Gesundheitswesen habe ich das bisher nicht so empfunden. Ferner wollte man eine staatlich gestaltete und kontrollierte, vielleicht zwar nicht behördlich durchgeführte, Fortbildung der Gesundheitsberufe, namentlich von Ärzten. Und viertens stand eine komplette Entfernung von freiberuflich tätigen Fachärzten auf dem politischen Wunschprogramm - zugunsten staatlicher Organisationsstrukturen der sogenannten Facharztebene. Das waren die vier ursprünglich angedachten Kernelemente, die auch immer noch nicht völlig vom Tisch sind.

Durch die Große Koalition, die sich beim Zustandekommen der Gesundheitsreform de facto gebildet hatte, kam es, das muss man wohl sagen, zu einer Eindämmung der staatsmedizinischen Pläne. Gleichwohl müssen wir feststellen, dass ein stärkerer staatlicher Einfluss unverkennbar ist. Die Ziele sind ja unverändert. In diesen Tagen hören wir: "Lohnnebenkosten-Dämpfung ist das wichtigste Ziel unserer Gesundheitspolitik". Das Ziel der Beitragssatzsenkung überlagert alles andere. Was dabei aber für die Versorgung der Patienten herauskommt, werden wir erst nach und nach erleben. Nur langsam wird der Öffentlichkeit bewusst, dass diese Politik Leistungskürzungen und Rationierung nach sich ziehen muss.

Kaum bemerkt wird, dass das GKV-Modernisierungsgesetz zum Zwecke der Kostendämpfung zwei ganz wichtige Elemente enthält, deren Auswirkungen sich erst nach und nach zeigen werden. Das eine Element ist eine Verknappung des Leistungsangebots. Man zieht Strukturen ein, die es erschweren, sich in dem System zurechtzufinden. Die von uns als Ärzteschaft prinzipiell für richtig gehaltene hausarztbasierte Primärversorgung ist das eine. Die haben wir immer für richtig gehalten. Sie wird nun zunächst einmal durch Anreizmodelle implementiert. Hat man sich daran ein bisschen gewöhnt, wird daraus eine Verpflichtung. Vorbilder sind Dänemark, die Niederlande, und mit Abstrichen auch Großbritannien. In Dänemark wurden Anreizsysteme geschaffen. Die finanziellen Anreize sind so stark, dass die Leute mehr oder weniger "freiwillig" zunächst zum Hausarzt gehen. Deshalb bedarf es in Dänemark keiner Vorschrift.

Konzentration - weniger Angebot - Rückzug des Staates - Merkantilisierung

Der zweite Punkt, der bei der Beurteilung der Gesundheitsreform oft vernachlässigt wird, ist die stärkere Konzentration der fachärztlichen Versorgung in Krankenhäusern, die damit praktisch das gebündelte fachärztliche Gesamtangebot bereitstellen. Nur dort, wo sich das nicht lohnt, weil ein Krankenhaus in der Gegend nicht existenzfähig wäre, darf der niedergelassene Facharzt auch allein existieren. Diese Aufweichung der ambulanten fachärztlichen Versorgung geschieht durch die Institutionalisierung, die sich zum einen auf dem Wege über die sogenannte integrierte Versorgung vollzieht, zum anderen durch die Einführung von medizinischen Versorgungszentren, die man auch poliklinikartige Ambulatorien nennen könnte. Vorbilder sind etwa Schweden oder die Niederlande. Im Fadenkreuz steht die fachärztliche Breitenversorgung, die wir in Deutschland hatten oder noch haben und die zugegebenermaßen wirklich hochkarätig ist. Wir haben seit den späten 1970er Jahren in Deutschland eine ambulante Fachebene aufgebaut, die flächendeckend und wohnortnah in der Lage ist, die komplette fachärztliche Versorgung darzustellen. Das war manchen Leuten schon immer ein Dorn im Auge.

Wenn dieses Angebot reduziert wird und nur noch Orthopäden, Augenärzte, Gynäkologen, nicht operierende Urologen als niedergelassene Fachärzte in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen übrigbleiben, heißt das, dass es den Rest der fachärztlichen Medizin  nur noch an Institutionen geben wird, insbesondere die operativen Fächer und die subspezialisierte konservative Medizin.

Ein weiterer Punkt: Die Leistungserbringungs-Einrichtungen werden zunehmend privatisiert. Wir haben in Deutschland als Freiberufler zwar niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Apotheker usw., die für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. Sie leben aber sozusagen unter staatlicher Oberbeobachtung, unter Supervision. Der Gesetzgeber muss - bzw. die von ihm beauftragten Organe wie z.B. die Körperschaften müssen - eingreifen, wenn hier irgendwo ein Leck entsteht.

Ein typisches Beispiel ist unsere Krankenhauslandschaft. Wir haben in den späten 1960er Jahren in Deutschland das Grundgesetz geändert, damit der Bund die Zuständigkeit dafür erhielt, ein Krankenhausgesetz zu erlassen. Daraufhin wurde die Bundesrepublik Deutschland flächendeckend mit einer Krankenhauslandschaft überzogen, die so ausgerichtet war, dass jeder innerhalb von 15 Minuten das für ihn oder sie gegebenenfalls nötige Bett erreichen konnte. Dadurch ist die hohe Bettenzahl zustande gekommen. Natürlich erklärt sich so auch die Nutzung der Krankenhäuser. Das wird jetzt radikal abgeschafft - schon durch die diagnosis-related-group-Vergütung, das System der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen, das in dem letzten Gesetz bereits Anfang dieses Jahrzehnts in die Wege geleitet worden ist.

Dieses Vergütungssystem, nach dem schließlich 90% der Behandlungen abgerechnet werden sollen, wird unsere Krankenhauslandschaft radikal verändern. Wir werden Krankenhäuser mit angemessener Ausstattung nur noch dort haben, wo sich das auch rechnet. Wir werden also nicht mehr etwas vorhalten, was zur Daseins-Vorsorge gilt, sondern nur noch etwas vorhalten, was betriebswirtschaftlich auch tatsächlich erfolgreich ist. Denn der Staat wird sich aus diesem Engagement sukzessive zurückziehen.

In diesem Bereich wechseln wir also vom Feuerwehrprinzip zu einem Kosten-Nutzen-basierten Prinzip. Die Folge wird eine starke Kommerzialisierung im Krankenhaus-Sektor sein. Wo der Staat sich aus dieser Szene zurückzieht, werden shareholder, Aktiengesellschaften oder andere Träger sich einklinken, die wissen, wo sie damit Geld verdienen können.

Das alles spürt man jetzt schon sehr deutlich. Die profitorientierten Organisationsformen nehmen kräftig zu. Sie sind auch diejenigen, die sich am meisten für die Gründung von medizinischen Versorgungszentren und integrierte Versorgungsformen interessieren. Ich vermute, dass wir in 10-15 Jahren eine Landschaft haben werden, in der das Ganze stark kommerzialisiert ist und in unserem Gesundheitswesen der karitative Gedanke, die Mildtätigkeit,  wenn überhaupt, eine nur noch minimale Restrolle spielen wird. Das ganze System wird stark vom Kosten-Nutzen-Denken geprägt sein.

Für unseren Beruf wird das bedeuten, daß die schon längst begonnene Merkantilisierung des Arztberufes zunehmen wird, insbesondere dann, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht nur als Angestellte arbeiten, sondern wenn sie selbst Mitspieler sein wollen, was ja nicht ganz selten vorkommt. Dann müssen sie, um mit denen konkurrieren zu können, die Kapital mitbringen, diese Denkungsart annehmen und sich merkantil orientieren. Mit anderen Worten: Wir wechseln vom Gesundheitswesen als einem Teil der Sozialpolitik in ein Gesundheitswesen, das dem Ressort Wirtschaftspolitik zuzuordnen ist. Noch heißt es, Gesundheitswirtschaft sei eine Teilmenge des Gesundheitswesens. Die Teilmenge wird aber immer größer und der Tag, an dem Gesundheitswirtschaft die Gesamtmenge sein wird, ist nicht mehr fern.

Ein weiterer großer Vorgang in unserem Gesundheitswesen, der mich persönlich sehr beunruhigt, ist die zunehmende Programmierung der Versorgung von Kranken. Wir wissen, dass nicht jeder, der sich krank fühlt, eine Diagnose hat, wie man so schön sagt. Es gibt niedergelassene Allgemeinärzte, Hausärzte, die mir sagen, 80% ihrer Patienten haben eigentlich nichts, was man einer geordneten, wissenschaftlich abgesicherten Diagnose zuordnen kann. Trotzdem macht sich bei uns ein Gedankengut breit, das aus der Gesundheitsökonomie herkommt und davon ausgeht, dass man das, was zwischen Patienten und Ärzten passiert, das Leistungsgeschehen, programmieren, in Programme aufteilen und Programmen zuordnen kann.

Standardisierte Behandlung unter staatlicher Aufsicht

Das ist etwas anderes als uns früher Lehrbücher gelehrt haben. Es hat auch mit der Idee von Leitlinien nicht viel zu tun. Es ist eine ganze andere Denkrichtung: Man steckt die Patienten in "Kästen". Schon das diagnosebezogene Fallpauschalensystem mit derzeit ca. 800 DRGs ist ein Symptom dieser Denkrichtung. Das heißt letztlich: Es gibt etwa 800 Begründungsmöglichkeiten für den Aufenthalt von Patienten in Krankenhäusern. Dieses Denken macht sich enorm breit und bedeutet, dass wir nach und nach solche Programme zu kreieren bzw. evtl. existierende zu implementieren und zu sanktionieren haben. Das ist auch eine wesentliche Aufgabe des jetzt nicht mehr staatlichen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das von der Selbstverwaltung getragen wird, die aber immer mehr Gefahr läuft, zur Auftragsverwaltung zu werden.

Das wiederum führt übrigens unweigerlich dazu, dass in Deutschland diese Behandlungsprogramme, wenn sie akzeptiert werden sollen und Wirkungen innerhalb des Finanzausgleiches der Krankenkassen entfalten sollen, zur Folge haben, daß die Krankenbehandlung von Menschen durch Rechtsverordnung geregelt wird. Die Disease-Management-Programme, die wir haben - für Diabetiker und für Mammakarzinom - basieren auf einer Rechtsverordnung. Was da stattfindet, ist deshalb als Rechtsverordnungs-Medizin zu bezeichnen. Diese Form des Denkens über die Patient-Arzt-Beziehung nimmt, wie gesagt, immer mehr zu und bedeutet, dass - zugespitzt gesagt - unsere Patient-Arzt-Kontakte der Zukunft regelrecht konfektioniert werden.

Eine zusätzliche Sorge bereitet mir die Entwicklung dieser konfektionierten Disease-Management-Programme, wenn sie nach wie vor auf dem umständlichen Verfahren einer Rechtsverordnung umgesetzt werden. Das birgt die Gefahr, dass die Erneuerung, die Weiterentwicklung sehr langsam geschieht und die wissenschaftliche Entwicklung auf der Welt den Programmerneuerern davonläuft. Die Programme geraten dann in eine Art abgeschlossenen Käfig, werden regelrecht kaserniert und können sich nicht vernünftig weiterentwickeln. Das ist eine zusätzliche mehr wissenschaftliche Sorge.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass wir als Ärztinnen und Ärzte in einer völlig neuen Welt leben, in der von dem, was wir aus der Vergangenheit her kennen, von der Freiheit unserer Berufsausübung, den Möglichkeiten, die sich auch dadurch ergaben, dass Schulen miteinander konkurriert haben, um den besten Weg zu finden, einiges nach und nach verloren geht und immer mehr der Steuerung unterliegt. Das bedeutet auch, dass wir die Freiheit immer mehr einbüßen, Patienten Alternativ-Vorschläge zu machen, ihnen sogar zu raten, andere Ärzte aufzusuchen, oder in der dualen Patient-Arzt-Beziehung das auszuwählen, was wir in dem individuellen Fall für das Richtige und das Akzeptierte halten.

Über Medizin neu nachdenken

Wir Ärzte sind nicht ganz schuldlos an dieser Entwicklung. In der Vergangenheit haben wir vielleicht der Öffentlichkeit zu sehr den Eindruck vermittelt, dass die Medizin in dieser Form ausgeübt werden könne, weil die Medizin den Naturwissenschaften doch so ähnlich sei. Die nichtmedizinischen Naturwissenschaftler haben aus ihrer Profession heraus ein starkes Organisationsbedürfnis und konnten deswegen der Politik Angebote zum Organisationsschema machen. In Analogie dazu mögen wir zu sehr den Eindruck vermittelt haben, auch unser Gesundheitswesen sei auf diesem Wege finanziell, ökonomisch-wirtschaftlich zu steuern. Auch mit der Leitlinien-Diskussion in der Form, wie wir sie geführt haben, dürften wir m.E. sehr dazu beigetragen haben, dass sich diese Meinung in der Öffentlichkeit entwickeln konnte: mit den etwas apodiktischen Meinungen darüber, was Leitlinien für einen Sinn haben und was sie leisten können.

Jetzt halte ich es für unsere Aufgabe, darüber zu diskutieren, was Medizin eigentlich ist. Ich habe das jüngst bei der Eröffnung sowohl des Internistenkongresses als auch des Chirurgenkongresses schon gesagt und seitdem noch viel dazugelernt. Der Versuch, eine Diskussion zu entfachen über den Medizinbegriff und das, was Medizin und Patient-Arzt-Beziehung eigentlich sind, wäre auch für die Politik brauchbar und als Rüstzeug nützlich für den Kampf mit den Gesundheitsökonomen.

Gegenüber der noch auf den genannten Kongressen in Berlin und Wiesbaden vorgetragenen Definition der Medizin lautet die inzwischen weiterentwickelte Version jetzt:

 "Medizin ist eine Human-, eine Erfahrungswissenschaft, die sich auch der Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaften, z.B. der Naturwissenschaften, der Biowissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Geisteswissenschaften, hier besonders der Philosophie und der Psychologie bedient, sich aber mit jeweils mehr oder weniger - (und das ist jetzt sehr wichtig) - nur wahrscheinlich richtigem Wissen, natürlich je nach Fach unterschiedlich ausgeprägt, umgehen muss, wobei bei allen individuellen Entscheidungen sowohl bei den Patienten als auch bei den Ärzten Wertungen eine wichtige Rolle spielen."

Neben einer Klärung, was Medizin ist, müssen wir darüber diskutieren, welche Funktionen Leitlinien haben. Für mein Empfinden sind Leitlinien eine Hilfe bei der Fortbildung, sogar eine sehr große Hilfe, um aus dem Riesenwust dessen, was sich in der Welt alles tut und publiziert wird, das herauszufiltern, was für die konkrete Situation wichtig ist und was der medizinischen Arbeit zugrunde liegen soll.

Wie schwierig das mit dem nur wahrscheinlichen Wissen in der Medizin ist, darf ich Ihnen an einem Beispiel erläutern: Ich bin Pathologe, habe aber, damit kein Irrtum entsteht,  mit Toten nichts mehr zu tun. Das Fach hat sich völlig verändert. Ich bekomme Gewebe von der Haut, aus dem Magen, aus der Leber oder sonst woher, und mache anhand dieser Gewebe eine Beurteilung, die dem Arzt am Krankenbett oder in der Praxis helfen soll, die richtige Diagnose zu stellen und die Behandlung des Patienten zu gestalten. Da gibt es etwa den schwarzen Hautkrebs. Und nun sollte man ja eigentlich meinen, daß der Pathologe durchs Mikroskop schaut, sieht und sagt: Das ist es! Und also ist es das auch. Man könnte es ihm zwei Wochen später wieder vorlegen, und er würde wieder dasselbe sagen: Das ist es! Und wenn man es einem anderen entsprechend kundigen Kollegen vorlegte, werde auch er sagen: Das ist es! Das aber ist weit gefehlt. So ist es keineswegs. Es gibt eine Arbeit - nicht ganz neu, aber immer noch gültig - über 38 Fälle von schwarzen Hautflecken, die schwierig zu diagnostizieren waren. Die Präparate waren an die fünf besten auf die Diagnose "schwarzer Hautkrebs" spezialisierten Dermato-Pathologen auf allen Erdteilen geschickt worden. Diese fünf Spezialisten hatten sich nur in 11 von den 38 Fällen einigen können, ob es sich um eine bösartige oder um eine nicht-bösartige Neubildung handelt. Wortgleich war die Diagnose in keinem einzigen Fall.

Für einen Außenstehenden, für einen Patienten handelt es da doch um einen an sich klaren Fall, wo der Arzt sagen müsste: Das ist bösartig oder das ist gutartig. Wenn nun schon da solche Differenzen möglich sind, wie will man dann Konfektionsmedizin in solchen Fällen machen, die viel weniger klar sind. Deshalb müssen wir m.E. viel deutlicher herausstellen: Medizin ist etwas anderes als es derzeit im Bewusstsein unserer Bevölkerung, insbesondere der Entscheidungsträger verankert ist. Das ist das eine. Und das andere: Die Patient-Arzt-Beziehung ist etwas anderes als ein Reparaturbetrieb.

Christian Hillgruber: Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber

Christian Hillgruber

Jedes Gesetz und jede politische Maßnahme, die uns ungerecht oder auch nur unerwünscht erscheint, aber gleichwohl für uns rechtlich verbindlich ist, stellt sich in individueller Perspektive als Fremdbestimmung dar, als etwas, das uns wider Willen aufgezwungen wird. An dieser Zumutung ändert auch die demokratische Legitimation der politisch Verantwortlichen einschließlich des Gesetzgebers nichts. Sie erlaubt zwar die Herstellung eines Zurechnungszusammenhangs, die Begründung der Geltung des demokratisch zustande gekommenen Mehrheitsbeschlusses für die Gesamtheit des repräsentierten Volkes1. Aber sie bleibt doch bloße Annäherung, wenn auch "die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit"2. Sie vermag den ohne oder gegen den eigenen Willen auferlegten gesetzlichen Zwang nicht in ein Freiheitserlebnis, Heteronomie nicht in Autonomie zu verwandeln. Die demokratische Freiheit der "Mitwirkung an der Bildung des herrschenden Willens im Staate"3 ist daher kein Ersatz für die natürliche Freiheit des vorstaatlichen Zustandes; dieser muß vielmehr in Bändigung auch des demokratischen Souveräns durch die Gewährleistung von Grundrechten im "bürgerlichen Zustand" prinzipiell aufrechterhalten werden.

Von dieser generellen, praktisch unvermeidlichen, alltäglichen Heteronomie, die alle in einer Demokratie in gleicher Weise trifft und zumeist fremdem Willen untertan sein läßt, soll im folgenden nicht mehr die Rede sein. Es geht vielmehr bei dem mir aufgegebenen Thema um spezifische Formen der Fremdbestimmung gerade des Arztes, der in den Dienst fragwürdiger gesundheitspolitischer Zielvorstellungen genommen wird: eine Fremdbestimmung wider das ärztliche Selbstverständnis. So wird der Arzt in der Funktion, die ihm beim Schwangerschaftsabbruch und - nach dem Willen einer im Vordringen begriffenen politischen Meinung - künftig unter Umständen auch bei der aktiven Sterbehilfe zugewiesen wird, zum "Handlanger" der Patienten und Vollstrecker der von anderen "letztverantwortlich" getroffenen Entscheidungen über die Beendigung ihres eigenen oder gar fremden Lebens.

Fremdbestimmt aber sieht sich der Arzt auch und vor allem im gegenwärtigen, staatlich überreglementierten Gesundheitssystem, das ihn nahezu ausschließlich in die dienende Rolle des "Leistungserbringers" zwingt, der als Vertragsarzt der kassenärztlichen Zulassung bedarf, um überhaupt seine Berufsfreiheit ausüben zu können, und nach der sog. Gesundheitsreform sogar als Inkassostelle für die sog. Praxisgebühr herhalten muss.

Die Rolle des Arztes beim Schwangerschaftsabbruch

1. Die notwendige Beteiligung des Arztes bei der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs

Der Arzt ist von Rechts wegen am Schwangerschaftsabbruch notwendig beteiligt; die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs setzt in jedem Fall voraus, daß er von einem Arzt durchgeführt wird (sog. Arztvorbehalt). Das Arzterfordernis soll gewährleisten, daß der Eingriff "fachgerecht", lege artis, und von daher mit möglichst geringem Gesundheitsrisiko für die Schwangere durchgeführt wird. Engelmachern und Kurpfuschern soll das Handwerk gelegt werden. So ehrenwert dieses Motiv ist, so mutet das Gesetz dem Arzt damit doch eine Tätigkeit zu, die nur in seltenen Fällen als Heileingriff qualifiziert werden kann und damit dem überkommenen Berufsbild entspricht. Nur wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft eine wirkliche Lebensgefahr für die werdende Mutter begründet, ist der Abbruch im wahren Sinne des Wortes medizinisch indiziert4. In allen anderen Fällen nimmt der Arzt mit der Abtötung der Leibesfrucht eine Handlung vor, die nicht zu Heilzwecken angezeigt ist und rechtlich sowie ethisch in hohem Maße fragwürdig erscheint.

Daß ein solches, an ihn gestelltes Ansinnen für den Arzt unzumutbar sein kann, erkennt der Gesetzgeber immerhin an: Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, es sei denn diese Mitwirkung ist notwendig, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden (§ 12 Abs. 1 u. 2 SchKG).

Das Recht des Arztes, die Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen - mit Ausnahme medizinisch indizierter - zu verweigern, fällt in den Schutzbereich seines durch das ärztliche Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG)5. Der Gesetzgeber verläßt sich allerdings darauf, daß sich genügend Ärzte finden, deren Gewissen nicht schlägt und die daher von ihrem Weigerungsrecht keinen Gebrauch machen, sondern mitwirken, weil andernfalls das ganze System nicht funktionieren würde6, und diese Einschätzung hat sich als zutreffend erwiesen. Mehr noch: Der Staat darf sich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung der vorausgesetzten Mitwirkung versichern, indem ein öffentlicher Krankenhausträger die Bereitschaft zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zum eignungsrelevanten Merkmal für eine zur Besetzung anstehende Chefarztstelle bei einer Frauenklinik deklariert7.

Einem Arzt für Frauenheilkunde, der sich auf eine solche Chefarztstelle bewerben möchte, aber entgegen der vom Krankenhausträger in der Stellenausschreibung geäußerten Erwartung die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, sei ohne Verstoß gegen seine grundrechtlich geschützte Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) zuzumuten, zur Vermeidung des sich daraus ergebenden Konflikts von der Bewerbung abzusehen und die hiermit verbundenen Nachteile hinzunehmen8. So befremdlich diese Rechtsprechung auf den ersten Blick erscheint9, sie ist letztlich nur konsequent: Mit der Verpflichtung, staatlicherseits ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen10, wird eine Staats- und Verwaltungsaufgabe begründet. Zu deren Erfüllung müssen die dafür erforderlichen sächlichen, aber auch personellen Mittel bereitgestellt und vorgehalten werden, und die "personellen Mittel" sind eben die zur Durchführung von Abbrüchen bereiten Ärzte.

Eine Stadt als Trägerin eines Krankenhauses muss sich daher auch um die Gewinnung solcher Chefärzte bemühen dürfen, die sich nach Prüfung ihres Gewissens zur Leitung einer Frauenklinik mit der Aufgabenstellung der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen imstande sehen. Daran wird allerdings "besonders deutlich, wie weit" - ungeachtet des prinzipiellen Rechtswidrigkeitsverdikts - "das staatliche Engagement bei der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen geht und wie dabei Ärzte vereinnahmt werden"11: Der Schwangerschaftsabbruch wird zur öffentlich geschuldeten Dienstleistung des Arztes, obwohl er nicht zu dessen Berufsbild, auch nicht zum Berufsbild des Gynäkologen zählt12.

2. Die Funktion des Arztes im "neuen Schutzkonzept"

Die vom BVerfG in der ersten Fristenlösungsentscheidung entwickelte und vom Gesetzgeber übernommene, von 1976-1993 geltende Indikationenlösung wies dem Arzt über die notwendige Teilnahme an dem von ihm durchzuführenden Schwangerschaftsabbruch hinaus die zentrale Rolle bei der Feststellung und Beurteilung des Vorliegens eines die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs ausnahmsweise ausschließenden Indikationstatbestandes zu. Danach sollte der Arzt mit verbindlicher Wirkung darüber entscheiden, ob die Austragung des ungeborenen Kindes der schwangeren Frau im Einzelfall zugemutet werden konnte oder nicht13.

Ob der Arzt tatsächlich die von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und dem Gesetzgeber vorausgesetzte besondere fachliche Eignung zur Feststellung des Ausnahmetatbestandes einer außergewöhnlichen, die Erfüllung der grundsätzlich bestehenden Pflicht zum Austragen des Kindes unzumutbar machenden Schwangerschaftskonfliktsituation besitzt, muß bezweifelt werden. Es handelt sich dabei jedenfalls nicht um eine medizinisch zu beantwortende Frage14.

Die Feststellung einer weit gefaßten medizinischen oder kriminologischen Indikation, die gemäß Â§ 218a Abs. 2 u. 3 StGB zu einem Ausschluß der Rechtswidrigkeit führt, ist nach wie vor ausschließlich dem Arzt vorbehalten. Die Bedeutung der Indikationsfeststellung ist indessen stark zurückgegangen, seit der Gesetzgeber mit grundsätzlicher Billigung des BVerfG für den Schutz des ungeborenen Lebens zu einem neuen Konzept übergegangen ist. Mehr als 95% aller statistisch erfaßten Schwangerschaftsabbrüche sind solche, die ohne Indikation nach der Beratungsregelung durchgeführt werden. Nach dem neuen Schutzkonzept liegt in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten der Schwerpunkt auf der Beratung der schwangeren Frau, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen. Zwar muß es von Verfassungs wegen dabei bleiben, daß der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich verboten ist15. Im Blick auf die notwendige Offenheit und Wirkung der Beratung wird aber auf eine indikationsbestimmte Strafdrohung und die Feststellung von Indikationstatbeständen durch einen Arzt als Dritten verzichtet16.

Dieser grundlegende Konzeptionswechsel wurde damit begründet und gerechtfertigt, daß schwangeren Frauen, denen eine qualifizierte, individuelle Beratung zuteil wird und denen die Letztverantwortung für die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch überlassen wird, "ihre Verantwortung unmittelbarer und stärker empfinden und daher eher Anlaß zu ihrer gewissenhaften Ausübung haben können, als wenn ein Dritter einen ihm genannten Grund - mehr oder weniger eingehend - überprüft und bewertet und mit der Feststellung, der Abbruch sei aufgrund eines Indikationstatbestandes erlaubt, der Frau ein Stück Verantwortung abnimmt"17.

Die Beratungsregelung mutet es andererseits Frauen zu, auf die persönliche Entlastung zu verzichten, die in einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des von ihnen beabsichtigten Abbruchs liegen kann. Aus der Wahrnehmung der Verantwortung, die der Frau mit der Beratungsregelung überlassen ist, kann keine Rechtfertigung des von ihr zu verantwortenden Abbruchs im Wege der Selbstindikation folgen. Nicht indizierte Schwangerschaftsabbrüche, deren Vornahme Frauen nach Beratung in den ersten zwölf Wochen von einem Arzt verlangen, sind daher zwar straffrei gestellt (§ 218a Abs. 1 StGB); sie dürfen aber nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden18. Das ist gewissermaßen der verfassungsrechtliche Preis, der für eine Beratungsregelung gezahlt werden muß19.

Dem Arzt scheint damit bei der Beratungsregelung prima facie die Last der Verantwortung abgenommen zu sein. Es ist die Frau, die im Beratungskonzept letztlich den Abbruch der Schwangerschaft tatsächlich bestimmt und insoweit verantworten muß (sog. Letztverantwortung). Gleichwohl bindet das BVerfG den Arzt in das Schutzkonzept der Beratungsregelung ein und weist ihm innerhalb dieses Konzepts eine eigene Schutzfunktion zu. Der Staat muß sogar den Arzt verpflichten, die ihm zukommende Schutzaufgabe wahrzunehmen. Die im Interesse der Frau notwendige Beteiligung des Arztes soll zugleich Schutz für das ungeborene Leben bewirken. Der Arzt, schon durch Berufsethos und Berufsrecht darauf verpflichtet, sich grundsätzlich für die Erhaltung menschlichen Lebens, auch des ungeborenen, einzusetzen, darf einen verlangten Schwangerschaftsabbruch nicht lediglich vollziehen, sondern hat sein ärztliches Handeln zu verantworten. Ihn trifft deshalb nach der Rechtsprechung des BVerfG bei einem Schwangerschaftsabbruch eine erweiterte Aufklärungs- und Beratungspflicht, gerade weil "die Rechtsordnung darauf verzichtet, das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes für den Schwangerschaftsabbruch im Einzelfall feststellen zu lassen"20.

Eine ärztlich verantwortbare Entscheidung über die Mitwirkung beim Schwangerschaftsabbruch setzt zunächst voraus, daß der Arzt sich über die Voraussetzungen vergewissert, von denen nach dem Schutzkonzept der Beratungsregelung der Ausschluß der Strafdrohung abhängt (vgl. § 218a Abs. 1 StGB). Er muß daher prüfen, ob sich die Schwangere hat beraten lassen, ob die Überlegungsfrist von mindestens drei Tagen, die zwischen Beratung und Eingriff liegen muß, verstrichen ist, und ob seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Über diese selbstverständliche Prüfung der formalen Voraussetzungen der Straflosigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs hinaus obliegt es dem Arzt, den Schwangerschaftskonflikt, in dem die zu ihm kommende Frau steht, im Rahmen seiner Erkenntnismöglichkeiten zu ermitteln. Dazu hat er sich die Gründe, aus denen die Frau den Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen will, darlegen zu lassen. Bei anderen als ärztlicher Untersuchung zugänglichen Gründen darf er allerdings regelmäßig von den ihm glaubhaft erscheinenden angegebenen Gründen ausgehen. Der von der Frau zwecks Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs aufgesuchte Arzt muß auch versuchen, etwaige tieferliegende Ursachen des Schwangerschaftskonflikt aufzudecken und sich Gewißheit darüber verschaffen, daß die Frau nicht von Dritten gegen ihren wirklichen Willen zum Schwangerschaftsabbruch gedrängt wird.

Auf der Basis der durch Untersuchung und Befragung der Frau gewonnenen Erkenntnisse beurteilt der Arzt - in normativer Orientierung an dem ihm aufgegebenen Schutz des ungeborenen Lebens - die Konfliktlage und führt ein Beratungsgespräch mit der Frau. In diesem Gespräch hat er der Frau zu verdeutlichen, daß der Schwangerschaftsabbruch die Zerstörung menschlichen Lebens bedeutet, und ihr deshalb, sofern nicht eine Ausnahmesituation vorliegt, in der die Rechtsordnung einen Schwangerschaftsabbruch als nicht rechtswidrig qualifiziert, davon abzuraten. Bleibt die Frau dessen ungeachtet bei ihrem Abtreibungsverlangen, so muß sich der Arzt abschließend darüber Rechenschaft ablegen, ob das Gespräch mit der Patientin ihm die Überzeugung vermitteln konnte, daß der Abbruchwunsch auf einem eigenen, verantwortlichen Entschluß und achtenswerten Gründen beruht und er selbst im Hinblick darauf die Durchführung des Abbruchs ärztlich verantworten zu können glaubt.

Dagegen kommt es nach dem Konzept der Beratungsregelung nicht darauf an, ob der Arzt den Schwangerschaftsabbruch selbst für zulässig hält. Hält der Arzt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den von ihm verlangten Abbruch für ärztlich nicht verantwortbar, so ist er aufgrund seiner allgemeinen Berufspflichten gehalten, seine Mitwirkung daran abzulehnen. Der Frau hat er die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte mitzuteilen21.

Die Funktion, die das BVerfG damit dem Arzt im Schutzkonzept der Beratungsregelung zuweist, ist ambivalent und deshalb heikel. Einerseits soll der Arzt, den die Schwangere zur Durchführung des Abbruchs aufsucht, neben der obligatorischen, am Ziel des Schutzes des ungeborenen Lebens orientierten Beratung gewissermaßen einen zweiten, seinem Selbstverständnis geschuldeten Schutzwall für menschliches Leben bilden, weiß doch außer der werdenden Mutter und der Person, die sie beraten hat, oft nur er um die Existenz des Ungeborenen und ist dieser nach seinem Berufsverständnis doch ohnehin zu dessen Schutz berufen.

Andererseits soll der Arzt aber letzten Endes die Entscheidung der Frau als maßgeblich respektieren und sich ihrem nach dem Beratungsgespräch aufrechterhaltenen, beachtlichen Abbruchwunsch fügen. Nach der Rechtsordnung darf ein Schwangerschaftsabbruch überhaupt nur in Ausnahmesituationen in Betracht gezogen werden, nämlich nur, wenn der Frau daraus eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die ihr zumutbare Opfergrenze übersteigt. Wie soll dann aber der Arzt in gebotener normativer Orientierung am verfassungsrechtlich vorgegebenen grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs eine nach Beratung ohne Indikationsfeststellung vorzunehmende, also rechtswidrige Abtreibung verantworten können?

Auf diese entscheidende Frage bleibt der Zweite Senat des BVerfG eine Antwort schuldig22. Ein Beleg für die dogmatische Inkonsistenz der kompromißhaften zweiten Fristenlösungsentscheidung, die zudem mit einem schillernden Verantwortungsbegriff operiert: Sowohl die Frau, die in ihrer sog. "Letztverantwortung" allein entscheidet, was ihr zuzumuten ist, als auch der Arzt, der die sogenannte ärztliche Verantwortung für den Abbruch tragen soll, sind im Grunde niemandem außer sich selbst verantwortlich: ein sinnentleerter Begriff von Verantwortung.

Die Zumutung der Mitwirkung am rechtswidrigen Abbruch verwandelte das BVerfG sodann unversehens in eine grundrechtliche Freiheitsberechtigung. In seiner Entscheidung zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz von 1996 sprach der Erste Senat des BVerfG23 den sich auf Abbrüche spezialisierten beschwerdeführenden Ärzten auch für die Durchführung rechtswidriger Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung den Grundrechtsschutz der Berufsfreiheit zu.

Als Begründung diente ihm unter irreführender Berufung auf das zweite Abtreibungsurteil der schlichte Hinweis darauf, dass die Tätigkeit des Arztes im Interesse der Schwangeren und ihrer Gesundheit sowie zum Schutz des ungeborenen Lebens notwendiger Bestandteil des gesetzlichen Schutzkonzepts der Beratungsregelung sei. Die Wirksamkeit des auf den Abbruch gerichteten Behandlungsvertrages verwandelt die nicht indizierte Abtreibung durch den Arzt aber nicht zur erlaubten beruflichen Betätigung, die der Arzt - durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt - zulässigerweise zur wirtschaftlichen Grundlage seiner Lebensführung machen dürfte.

Für die damit einhergehende Tötung des Ungeborenen kann angesichts der verfassungsrechtlichen Prämisse des Handlungs- und Erfolgsunrechts der Abtreibung weder die Frau, die sich nach Beratung zum Abbruch entschließt, eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen noch genießt der Arzt insoweit unter dem Aspekt der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Erwerbsfreiheit Grundrechtsschutz. Doch der Perversion des ärztlichen Selbstverständnisses und Heilauftrags folgte die Perversion des Freiheitsverständnisses auf dem Fuße.

Sterbehilfe und "die individuelle Verantwortung des Arztes"

Bezeichnend ist auch, auf welche Weise diejenigen, die der aktiven Sterbehilfe den Weg bereiten wollen, die Verantwortung dafür auf den Arzt abwälzen. So fragt der Philosoph Volker Gerhardt24: "Gesetzt, der unheilbare Kranke beharrt auf einer letzten Hilfe, die ihn definitiv von seinem Leiden erlösen soll: Was ist dann zu tun?" Und weiter: "Liegt nicht die ganze Verantwortung bei dem, der die Behandlung beendet oder die tödliche Dosis verabreicht? Kann eine Arzt durch den Todeswunsch seines Patienten verpflichtet, ja, kann er überhaupt durch ihn entschuldigt sein?" "Ethisch gesehen", so Volker Gerhardts erste, vorläufige Antwort, "kann niemand verpflichtet sein, den Todeswunsch eines anderen auszuführen. Kein Arzt, dessen berufliches Ethos in der Heilung von Krankheiten besteht, kann durch eine noch so eindeutige Willensäußerung zur Sterbehilfe genötigt sein. Auch ein erwarteter "irreversibler tödlicher Verlauf’ der Krankheit kann daran nichts ändern. Weder eine seit langem vorliegende Patientenverfügung noch ein akutes Verlangen enthalten einen hinreichenden Grund".

Doch dann flüchtet sich Gerhardt, um die Berechtigung zur ärztlichen Leistung von Sterbehilfe zu begründen, in die "Ethik der individuellen Verantwortung": "Gesetzt, die Lage ist individuell verbindlich, juridisch eindeutig und medizinisch aussichtslos, entfällt auch der letzte Grund, den ein Arzt unter Berufung auf sein Ethos für eine weitere Behandlung anführen könnte. Dann ist es allein eine Frage seiner persönlichen Verantwortung, ob er die letzte Hilfe gewährt oder die Behandlung einem anderen überlässt. ... Wer es in einer solchen Lage vor sich selbst vertreten kann, einem Sterbenden die letzte Hilfe zu gewähren, dem kann das nicht als moralische Verfehlung zur Last gelegt werden. Die dazu erforderliche Urteilskraft kann freilich nur einem Arzt zugestanden werden. Der darf dann - und nur dann - zum Tod verhelfen, wenn er überzeugt sein kann, dass eine Heilung ausgeschlossen ist und zugleich eben der Zustand gegeben ist, auf den sich das Todesverlangen bezieht".

Aber warum, so fragt man sich, soll der Arzt nicht nur hinsichtlich der Aussichtslosigkeit weiterer Heilbehandlung sondern auch im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit, Unbedingtheit und aktuelle Geltung des Todeswunsches eine besondere Urteilskraft besitzen. Hier könnten Angehörige, die mit dem unheilbar Kranken längere Zeit zusammengelebt haben, doch wohl viel verläßlicher Auskunft geben, vorausgesetzt, sie haben kein Eigeninteresse an einem möglichst raschen Ableben ihres Verwandten. Und wenn hier Zweifel bleiben, müßte dann nicht, wenn denn überhaupt jemand anderem als dem betroffenen Menschen selbst Entscheidungsgewalt über dessen Fortleben eingeräumt werden kann und soll, der von Berufs wegen zur Unparteilichkeit und Wahrheitssuche verpflichtete, unabhängige Richter letztverbindlich entscheiden?

In Wahrheit soll hier die Verantwortung für den Tod von fremder Hand, die man selbst mit Recht nicht tragen zu können glaubt, lediglich auf den Arzt delegiert und damit scheinbar fachmännisch legitimiert werden. Dieser muss aber, um für diese angebliche Hilfeleistung gewonnen werden zu können, von seiner Berufsethik, die ihn gerade zur Lebenserhaltung anhält und von Lebensvernichtung abhält, freigesprochen und auf seine "individuelle Verantwortung" verwiesen werden. Aus der berufsethischen Verpflichtung entlassen, soll es einem Arzt ermöglicht werden, "nach dem eindeutigen Willen eines Todkranken zu handeln - wenn es sein ärztliches Urteil erlaubt und wenn sein Gewissen dem nicht entgegensteht".

Die sog. individuelle Verantwortung erschöpft sich also im Rekurs auf das ungebundene, unüberprüfbare subjektive Gewissen des Einzelnen, das bei dem einen schlagen mag, bei dem anderen aber schweigt. Indem der einzig denkbare, aber sich als sperrig erweisende objektive Maßstab der ärztlichen Standesethik zugunsten einer subjektiven Gewissensentscheidung des Arztes beiseite geschoben wird, ist der Weg für die unverantwortliche, in das Gutdünken des Arztes gestellte, unter wirkungsvollem Appell an die Helferattitüde als letzte "Hilfe" verschleierte Fremdtötung frei; denn machen wir uns nichts vor: Die Tötung auf Verlangen weist nicht nur eine phänomenologische Nähe zum klassischen Totschlag auf, sie ist auch ungeachtet irreführender Umschreibung als "arbeitsteiliger Selbsttötung"25 (Jakobs) Fremdbestimmung im substanziellen Sinne: Nicht derjenige, der getötet werden will, sondern der den Tötungsakt allein vornehmende Dritte beherrscht das Geschehen, und deshalb ist es praktisch auch nie unzweifelhaft, ob denn der Wille, getötet zu werden, auch wirklich im endgültigen Zeitpunkt des irreversiblen Überschreitens der letzten Schwelle, in jenem entscheidenden Moment, der kein Aus- oder Zurückweichen mehr zuläßt, noch immer besteht26.

Und deshalb ist es ein Ding der Unmöglichkeit, wenn jemand versucht, "einem anderen die Verantwortung für sein definitives Ende aufzubürden" und gleichzeitig bis zuletzt die Selbstbestimmung zu wahren. Wenn der Arzt sich unter Berufung auf einen entsprechenden Willen seines Patienten zu dessen Tötung entschließt, dann verantwortet er diese Handlung nicht ärztlich - "die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos"27 - sondern entscheidet über das Fortleben eines anderen als Privatperson, die insoweit über keine "höhere Moral" als andere Individuen verfügt. Der Begriff der individuellen Verantwortung führt dabei in die Irre und lenkt den Arzt von seinem beruflichen Ethos ab; für sein Tun soll er gerade niemandem verantwortlich sein - außer sich selbst, d.h. vor der Instanz seines Gewissens. Wie eine solch billige "Ethik der individuellen Verantwortung", bei der am Ende niemand mehr Verantwortung für den absichtsvoll herbeigeführten Tod eines anderen Menschen trägt, dadurch, daß sie ihren Ausgang beim einzelnen nimmt, "der in genauer Kenntnis der Umstände seine individuelle Verantwortung wahrzunehmen hat, [...] die höchsten Hürden gegen eine allgemeine Lizenz zum Gnadentod [errichtet]", bleibt ein Rätsel und das Geheimnis Volker Gerhardts.

Das einzige, was mit einer so organisierten Sterbehilfe erreicht werden mag53 oder man denkt die Rolle des Vertragsarztes systemimmanent konsequent zu Ende: Dann kann der "Bedienstete der Kassenpatienten", der "öffentlich-rechtlich gebundene Funktionsträger"54 innerhalb des Gesundheitssystems nicht zugleich auch als gegenüber diesem System mit grundrechtlicher Freiheitsberechtigung ausgestattet angesehen werden. Als Funktionsträger im öffentlich-rechtlichen System muss er selbst zu dessen Erhaltung beitragen, kann ihm als Leistungsvolumen und Vergütung nur zugesprochen und zugeteilt werden, was das Gesamtsystem verträgt, ohne seine Funktionsfähigkeit und Stabilität einzubüßen.

Nur wenn sich die konsequent freiheitliche Sicht durchsetzt, kann der Arzt die gegenwärtige Fremdbestimmung als Vertragsarzt überwinden und wieder zu Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zurückfinden.

Ausgewählte Steuerungsinstrumente des Kassenarztrechts und Instrumentalisierung des Arztes

Auf zwei Steuerungsinstrumente des Kassenarztrechts und die damit einhergehende Instrumentalisierung des Vertragsarztes soll kurz gesondert eingegangen werden: auf das Mittel der Budgetierung (1.) und auf die sog. Praxisgebühr (2.).

1.  Budgetierung

Das geltende Recht der GKV, in dem sich die Budgetierung als maßgebliches Gestaltungsprinzip zunehmend ausbreitet, kennt eine Fülle verschiedener Formen sog. Budgets. "Globalbudget" etwa bedeutet eine der GKV insgesamt oder in bestimmten Ausgabenbereichen zur Verfügung gestellte Gesamtsumme, "das Ausgabevolumen für die Gesamtheit der zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen". Unter "Praxisbudget" versteht man die einer Vertragsarztpraxis in einem bestimmten Abrechnungszeitraum zur Verfügung stehenden Mittel. Das Praxisbudget resultiert aus der Anwendung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen. Sie werden arztpraxisbezogen einer fallzahlabhängigen Budgetierung unterstellt. Die in den aus Fallpunktzahl und Fallzahl zu ermittelnden Budgets enthaltenen Leistungen sind je Praxis und Quartal "jeweils nur bis zu einer begrenzten Gesamtpunktzahl abrechnungsfähig" (§ 87 Abs. 2a SGB V). Mit anderen Worten: Praxisbudgets legen für den Vertragsarzt eine höchstzulässige Einzelvergütung fest. Sie belasten die Ärzteschaft mit dem Risiko unvergüteter Ausweitung der Leistungsmenge. Die gleiche Wirkung entfalten, wie gesehen, arztgruppenspezifische Regelleistungsvolumina; auch sie sind daher als auf der einzelnen vertragsärztlichen Ebene angesiedelte Budgets zu bewerten55.

Budgetierung bedeutet Kontingentierung, Rationierung durch Festlegung von Ausgabenobergrenzen. Sie ordnet praktisch - bei andernfalls eintretender Selbstschädigung - eine Verpflichtung des Vertragsarztes zur Einhaltung damit vorgegebener, vergütungsfähiger Leistungsvolumina an. Die Budgetierung gerät damit tendenziell mit dem die gesetzliche Krankenversicherung prägenden Bedarfsprinzip in Konflikt, sofern das Budget so knapp bemessen ist, daß vorhandener Bedarf nach ärztlicher Behandlung, der Verordnung von Arznei- oder Heilmitteln wie auch nach stationärer Versorgung nicht (in vollem Umfang) gedeckt werden kann56, was auch bei Annahme und Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven des Systems irgendwann unweigerlich der Fall sein wird.

Unredlicherweise lässt der zum Zweck der Ausgabenbegrenzung zum Mittel der Budgetierung greifende Gesetzgeber aber die Leistungsansprüche der Versicherten, die auf die Deckung des notwendigen Bedarfs gerichtet, rechtlich unberührt und verpflichtet stattdessen die Vertragsärzte zur Einhaltung von Leistungsobergrenzen. Er wälzt damit die Verantwortung auf die Leistungserbringer ab, die die mit der Rationierung verbundenen Konsequenzen letztlich im Einzelfall, d.h. in dem vertrauensabhängigen Arzt-Patient-Verhältnis zu bewältigen haben57.

Das Problem der Ausgabensteigerung aber lässt sich mit dem dafür ungeeigneten Mittel der Budgetierung nicht lösen. Die in § 84 Abs. 1 SGB V nach wie vor enthaltene Regelung über das Arzneimittelbudget begründet gar eine verfassungsrechtlich unhaltbare Kollektivhaftung der Vertragsärzte für den Fall der Budgetüberschreitung58.

2.  Praxisgebühr

Durch das am 1.1.2004 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung59 hat der Sozialgesetzgeber für die Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers eine sogenannte Zuzahlung von 10,- € eingeführt (§ 28 Abs. 4 i.V.m. § 61 S. 2 SGB V). Diesen - in der Gesetzesbegründung60 auch als "Praxisgebühr" bezeichneten - Beitrag leistet der Versicherte, soweit er das 18. Lebensjahr vollendet hat, an den die Leistung erbringenden Arzt (§ 28 Abs. 4 S. 1 SGB V). Der Arzt hat den Betrag einzubehalten, sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse oder der Kassenärztlichen Vereinigung verringert sich um diesen Betrag (§ 43 Abs. 2 S. 1 SGB V). Geleistete Zuzahlungen sind kostenfrei zu quittieren (§ 61 S. 4 SGB V).

Mit dem Begriff der "Gebühr" wird der irreführende Eindruck erweckt, die Versicherten erbrächten eine Gegenleistung für besonderen Verwaltungsaufwand; in Wahrheit handelt es sich um eine Zuzahlung zu den Kosten der in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen, durch die deren Eigenverantwortung gestärkt und ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung geleistet werden soll61. "Die Praxisgebühr ist keine Leistung für die Arztpraxis, sondern für die Krankenkasse. Die Arztpraxis fungiert nur als Inkassostelle"62. Die Einziehung der "Praxisgebühr" durch den behandelnden Arzt dient der Verwaltungsvereinfachung und macht ihn zugleich "im Wege des Etikettenschwindels zum Blitzableiter für den von den Medien entfachten Volkszorn"63.

Aber ist sie deshalb auch schon verfassungswidrig? Bei der Verpflichtung des Arztes zur Einbehaltung handelt es sich nicht um einen Beleihungsakt, sondern um eine Indienstnahme durch gesetzliche Auferlegung bestimmter Handlungspflichten64. "Mit anderen Worten bedient sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben privater Verwaltungskraft. Der in Dienst genommene Private wird in die Rolle eines Verwaltungshelfers wider Willen gedrängt"65. Die Zulässigkeit einer solcher Inanspruchnahme Privater für die Realisierung öffentlicher Zwecke ist umstritten; sie dürfte allerdings bei hinreichender Sach- und Verantwortungsnähe des Verpflichteten zu der damit geförderten öffentlichen Aufgabe prinzipiell zu bejahen sein66.

Diese erforderliche Nähebeziehung wird man angesichts der Einbindung des Arztes in das tripolare Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung im vorliegenden Zusammenhang kaum verneinen können67. Zwar ist der Arzt hier bei der Durchsetzung einer Forderung behilflich, die der Krankenkasse zusteht und die der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung dient. Aber die Finanzierung dieses Sicherungssystems kommt letztlich auch dem in dieses System integrierten Vertragsarzt zugute, der sein Honorar ja nicht von den Kassenpatienten erhält, sondern ausgezahlt von den Kassenärztlichen Vereinigungen, an die die Krankenkassen die Gesamtvergütungen ausschütten68.

Die Einbehaltung der Praxisgebühr ist integraler Bestandteil der Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung, zu der der Vertragsarzt nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist. Ist es dann nicht - systemimmanent betrachtet - auch recht und billig, die Vertragsärzte mit der Auferlegung der Pflicht zur Einziehung und Quittierung der Praxisgebühr als Verwaltungshelfer in Anspruch zu nehmen? Daß die Inpflichtnahme als solche verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, bedeutet allerdings nicht, daß es zulässig ist, den Arzt auch mit den Kosten des Einzugsverfahrens zu belasten69. Eine Inpflichtnahme ohne Ausgleich der entstehenden Kosten läuft auf eine sachlich nicht zu rechtfertigende Honorarkürzung hinaus.

Fazit und Ausblick: Die Erfüllung des ärztlichen Heilauftrags im Spannungsfeld rechtlicher
und berufsethischer Anforderungen

Was haben die beschriebenen, verschiedenen Formen der Fremdbestimmung des Arztes durch den Gesetzgeber gemein? Sie lenken den Arzt von der Wahrnehmung seines genuinen Heilauftrags ab, ja mehr noch: sie verfremden ihn und sind geeignet, den Arzt von der Erfüllung seiner Pflichten abzuhalten.

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung droht der Arzt die Freiheit seines Berufs einzubüßen und zu einem bloßen Funktionsträger, einem fremdgesteuerten "Leistungserbringer" degradiert zu werden. Allumfassende Budgetierung soll ein finanziell angeschlagenes System vor dem Kollaps bewahren, auf Kosten der zu kappenden Vergütung der Leistungserbringer, aber, weit schlimmer noch, eben auch auf Kosten der Quantität und Qualität medizinischer Heilbehandlung. Die alle Lebensbereiche erfassende Ökonomisierung70 fordert unerbittlich ihren Preis.

Euthanasie, so wird berichtet, hat auch in Deutschland längst schleichend Einzug gehalten71, durch Rationierung (vertrags-)ärztlicher Versorgung, die der Gesetzgeber zwar nicht anordnet, aber doch veranlaßt: So schreibt das Gesetz die Festlegung "für auf das Kalenderjahr bezogene[r] Volumen der je Arzt verordneten Arznei- und Verbandmittel (Richtgrößenvolumen)" vor, Richtgrößen, die "nach altergemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten" bestimmt werden und "den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung [...] nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot" leiten sollen (§ 84 Abs. 6 SGB V)72.

Wie kann dieser Entwicklung Einhalt geboten werden? Das Verfassungsrecht bietet dem Arzt, wie gesehen, keinen hinreichenden Schutz vor Fremdbestimmung, erst recht nicht Schutz des Einzelnen oder gar einer ganzen Berufsgruppe vor sich selbst. Es läßt wegen seiner prononciert individualrechtlichen Schutzperspektive73 selbst die Geltung und Durchsetzung der zu Standesrecht verdichteten Berufsethik nur eingeschränkt zu.

Unter Berufung auf ihr freiheitsgrundrechtlich geschütztes Gewissen mögen einzelne Ärzte der Manipulation widerstehen, sich den Gesetzmäßigkeiten des Gesundheitssystems entziehen; zu ändern vermögen sie es dadurch nicht. Nur wenn sich die Ärzteschaft auf ihre überlieferte und bewährte Berufsethik rückbesinnt, die Selbstverpflichtung auf sie erneuert und die Zumutung eines Verrats an ihrem Auftrag geschlossen und entschlossen zurückweist, indem sie sich solchem politischen Ansinnen kollektiv verweigert, können Gesellschaft und Gesetzgeber zu einem Umdenken und Umsteuern gezwungen werden. Dazu muß die Ärzteschaft, die sich teilweise bereits geistig hat korrumpieren lassen, zunächst einmal wieder zu sich selbst finden.

Nur wenn ihr das gelingt, wird sie ihrer vielbeschworenen, aber nicht selten auch - bewußt oder unbewußt - gründlich mißverstandenen, ärztlichen Verantwortung wieder wirklich gerecht.

1  Siehe dazu C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit. Grundlagen und Grenzen des demokratischen Majoritätsprinzips, AöR .127 (2002), S. 460-473.

2  H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 1929, S. 8f.

3  H. Kelsen, (Anm. 2), S. 5.

4Siehe dazu BVerfGE 88, 203, 314 unter Verweis auf E 39, 1, 44, 46 und BSGE 39, 167, 169; R. Beckmann, Arztberuf und Abtreibung, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. zu Köln, Nr. 16, Köln 1999, S. 17-53, 27 f., 40 m. Fn. 78, 47.

5BVerfGE 88, 203, 294.

6R. Beckmann (Fn. 4), S. 52f.

7BVerwGE 89, 260 = MedR 1992, 290 m. Anm. C. Jansen; siehe dazu auch W. Kluth, Die Neufassung des § 218 StGB - Ärztlicher Auftrag oder Zumutung an den Ärztestand?, MedR 1996, S. 546-553, 547f.

8BVerwGE 89, 260, 264f.

9Allerdings wird den Bewerbern nicht das Recht bestritten, nach ihrer Einstellung die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu verweigern, selbst wenn sie zunächst dazu bereit waren (BVerwGE 89, 260, 263). Damit wird ihnen als gangbarer "Ausweg" die Flucht in die Mentalreservation mit anschließender "(Neu-) Entdeckung" des Gewissens nahegelegt. (Nur) der Ehrliche ist hier der Dumme: "Ein honoriger Bewerber wird seine Bewerbung und etwaige Einstellung auf diese Stellenausschreibung hin als konkludente Selbstverpflichtung zur Erfüllung der ausdrücklich geäußerten "Erwartung" auffassen und sich nicht etwa im geheimem vorbehalten, später das Gegenteil zu tun oder sich auf eine Gewissensänderung berufen zu können" (Anm. C. Jansen, MedR 1992, 293).

10Vgl. BVerfGE 88, 203, 328f.

11W. Kluth, Die Neufassung des § 218 StGB - Ärztlicher Auftrag oder Zumutung an den Ärztestand?, MedR 1996, 546, 547.

12BayVGH, DVBl. 1990, 880, 881.

13Zum maßgeblichen Unzumutbarkeitskriterium siehe BVerfGE 39, 1, 48-50.

14Kritisch R. Beckmann (Fn. 4), S. 38-42.

15BVerfGE 88, 203, 255 unter Bezugnahme auf E 39, 1, 44.

16Vgl. BVerfGE 88, 203, 204 (LS 11), 264.

17BVerfGE 88, 203, 268.

18BVerfGE 88, 203, 270, 272.

19BVerfGE 88, 203, 274.

20BVerfGE 88, 203, 289.

21Vgl. BVerfGE 88, 203, 289-292; siehe auch schon E 39, 1, 63 f.

22Zu Recht dazu kritisch R. Beckmann (Fn. 4), S. 29, 45; B. Büchner, JVL 13 (1996), S. 10.

23BVerfGE 98, 265, 297. Dazu kritisch C. Hillgruber, Die Rechtsstellung des Arztes beim Schwangerschaftsabbruch - freie berufliche Betätigung oder Erfüllung einer staatlichen Schutzaufgabe, ZfL 2000, 46, 50f.

24Letzte Hilfe, in: FAZ v. 19.09.2003, S. 8.

25G. Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 22.

26Vgl. dazu G. Duttge, Lebensschutz und Selbstbestimmung am Lebensende, ZfL 2004, S. 30-38, 35, für den dies allerdings nur bei bestehender Handlungsfähigkeit des Todeswilligen gilt.

27Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom 30.4.2004, Deutsches Ärzteblatt, 7.5.2004, S. A-1298 = ZfL 2004, S. 57f., 57.

28Nicht einmal darauf aber kann man sich sicher verlassen: So wird zur Sterbehilfepraxis in den Niederlanden berichtet, dass 1995 in 648 Fällen der medizinisch assistierte Selbstmord wegen unzureichender Wirkung der Medikamente misslang, so dass die Patienten schließlich aktiv getötet werden mussten (F. Oduncu/W. Eisenmenger, Geringe Lebensqualität. Die finstere Praxis der Sterbehilfe in Holland - bis hin zum Mord", in: SZ v. 17.7.2003, S. 11): Pfusch!

29Dass auch Art. 2 EMRK kein Recht auf aktive und direkte Tötung auf Verlangen beinhaltet, entschied der EGMR im Fall Diana Pretty ./. Vereinigtes Königreich (NJW 2002, 2851).

30Zitiert nach: S. Rehder, Sterbehilfe in der Industriegesellschaft, LebensForum Nr. 70, 2/2004, S. 24f.

31Knappe Übersicht bei E. Deutsch/A. Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin u.a. 2003, Rn. 67f., S. 43f.; A. Hollenbach, Grundrechtsschutz im Arzt-Patientenverhältnis, Berlin 2003, S. 349-351.

32Siehe dazu und zum Folgenden W. Boecken, Der Status des Vertragsarztes: Freiberufler oder arbeitnehmerähnlicher Partner im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in: FS H. Maurer, München 2001, 1091-1109, 1095-1106.

33Zu den im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen enthaltenen Budgetierungs- und Abstaffelungsregelungen siehe § 87 Abs. 2a S. 7 u. 8 SGB V.

34W. Boecken (Fn. 32), S. 1103. Konsequenterweise verneint das BSG (Beschl. V. 3.3.1999, SozR -2500 § 85 Nr. 30) einen subjektiven Anspruch des Vertragsarztes auf angemessene Vergütung.

35Vgl. R. Hess, Vertragsarzt: freier Beruf oder Gesundheitsbeamter, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1996, S. 67ff.

36So die h.M.; etwa W. Boecken (Fn. 32), S. 1106; ders.; Leistungserbringer im Spannungsverhältnis von freiem Beruf und staatlicher Bindung: Die Stellung des Vertragsarztes im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in: S. Empter/H. Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, Bertelsmann Stiftung, S. 139-162, 159; H. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 161ff.; J. Isensee, Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung, VSSR 1995, 321, 330; einschränkend F. Hufen, Inhalt und Einschränkbarkeit vertragsärztlicher Grundrechte, MedR 1996, S. 394-403, 396, der annahm, mit dem Gesundheitsstrukturgesetz habe der Gesetzgeber "einen Wechsel vom freien Arztberuf hin zum Beruf des verwaltenden und verwalteten Vertragsarztes" vollzogen; siehe aber jetzt wieder dens., Grundrechtsschutz der Leistungserbringer und privaten Versicherer in Zeiten der Gesundheitsreform, NJW 2004, 14, 14f.

37H. Bogs, Die Zulassung zum freiberuflichen Kassenarztamt unter dem Bonner Grundgesetz, in: W. Gitter/W. Thieme/H. F. Zacher (Hrsg.), FS Wannagat, 1981, S. 51-85, 73, der die Zulassung zum Kassenarztsystem als Gewährung von "Teilhabe an dem Amtsstellensystem der öffentlichen Daseinsvorsorgeverwaltung" einordnet.

38So wohl tendentiell v. Maydell/Pietzcker, Begrenzung der Kassenarztzulassung, Baden-Baden 1993, S. 19ff.

39So dem Sinne nach G. Manssen, Das Kassenarztzulassungsrecht des SGB V - Einfachrechtliche Ausgestaltung durch das GSG und verfassungsrechtliche Problemstellung, ZfSH/SGB 1994, 1.

40So H. Bogs, Das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) im Spiegel des Arztsystems, in: B. Becker/H. P. Bull/O. Seewald (Hrsg.), FS Thieme, 1993, S. 715-731, 719.

41F. Naschold, Kassenärzte und Krankenversicherungsreform, 1967, S. 98.

42Vgl. BVerfGE 11, 30, 39-42; 16, 286, 298.

43W. Boecken (Fn. 32), S. 1096.

44BVerfGE 11, 30, 44f.

45So F. Hufen (Fn. 40), S. 14f.

46Nach v. Neumann, Leistungerbringer im Spannungsverhältnis von freiem Beruf und gesetzlicher Bindung, in: S. Empter/H. Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, Bertelsmann Stiftung, S. 163-184, 165 ("Der Vertragsarzt als sozialstaatlich begünstigter Beruf") hat das BVerfG in E 103, 172, 186-189 die "teilhaberechtliche Sichtweise" "in die abwehrrechtliche Konzeption integiert, wobei allerdings einige dogmatische Fragen offen bleiben".

47So F. Hufen (Fn. 36), S. 15.

48 Nachweise der (Kammer-)Rechtsprechung bei F. Hufen (Fn. 36), S. 14 Fn. 12-14; T. Clemens, in: Umbach/Clemens, GG, Mitarbeiterkommentar, Bd. I, 2002, Anhang zu Art. 12 Rdnrn. 63ff.

49Siehe nur BVerfGE 103, 172, 184f. m.w.N. = NJW 2001, 1779, 1780. Dazu kritsch F. Hufen (Fn. 36), S. 16 und R. Zuck, Die Praxisgebühr - das wahre Unwort des Jahres, NJW 2004, 1091.

50Wohl nicht zu Unrecht hält BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 1998, 1776, 1777 es für möglich, dass "die Einbindung der Vertragsärzte in das öffentlich-rechtliche System der gesetzlichen Krankenversicherung auch Sonderregelungen rechtfertigen könnte". Zutreffend kon­statiert E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, 1689: "Die verfassungsgerichtliche Prüfung bewegt sich innerhalb des Systems".

51Konsequent einen solchen Anspruch ablehnend daher der Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Juli 1991, BVerfG SozR 3-5557 Allg. E-GO.

52Vgl. BVerfGE 47, 285, 321.

53Konsequent fordert F. Hufen (Fn. 36), S. 14, der für eine grundrechtliche Sicht plädiert, einen Systemwechsel weg vom "’herrschenden’ Modell der GKV" und hin "zur Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, die durch das System der "Leistungserbringer verloren zu gehen scheint". Siehe auch E. Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689, 1691f..

54F. Naschold (Fn. 41).

55Siehe dazu G. Schneider, Wirtschaftlichkeitsprüfung unter dem Einfluß von Praxisbudgets, MedR 1998, 540, 542f.

56Vgl. W. Boecken, Mengensteuerung durch Budgetregelungen unter Einbeziehung der Globalbudgets. MedR 2000, 165, 166-168.

57Siehe dazu treffend W. Boecken, MedR 2000, 165, 167f.; ders. (Fn. 32), S. 1100 spricht gar von "Perfidie". Vgl. auch G. Schneider, MedR 1998, 540, 545: "Jede Form der Budgetierung, wie sie in der GKV betrieben wird, ist schon deshalb als unaufrichtig zu bewerten, weil sie keine direkte Rationierung von Gesundheitslei­stungen bewirkt, sondern das Problem durch Kontingentierung von Vergütungen auf die Schultern der Leistungserbringer bürdet. Politisch redlich wäre es demgegenüber, rationierte man die Gesundheitsleistungen durch Einschränkungen in leistungsrechtlicher Hinsicht".

58Siehe dazu näher W. Boecken, MedR 2000, 165, 169-171; ders. (Fn. 32), S. 1099f.; K.H. Friauf, Zur Frage der Vereinbarkeit des Arzneimittelbudgets nach Art. 29 GSG und § 84 Abs. 1 SGB V mit den Anforderungen des Grundgesetzes, Rechtsgutachten, 1994; R. Ratzel, Auswirkungen der Arzneimittelbudgetierung, MedR 1996, 180.

59GMG vom 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190).

60BT-Drucks. 15/1525, S. 83.

61Vgl. BT-Drucks. 15/1525, S. 71, 83.

62R. Zuck, NJW 2004, 1091. Siehe auch R. Weimar/B.R. Elsner, Offene Fragen zum Kostenersatz des Arztes für die Einbehaltung der "Praxisgebühr", GesR 2004, 120, 121.

63R. Zuck, NJW 2004, 1091.

64Vgl. R. Weimar/B.R. Elsner, GesR 2004, 120, 122; T. Linke, Praxisgebühr auf dem Prüfstand - zugleich Besprechung von SG Berlin, Beschluss vom 16.2.2004 - S 79 KA 348/03 ER -, NZS 2004, 186, 188. Zur Abgrenzung von Beleihung und Inpflichtnahme vgl. BVerfGE 30, 292, 310ff. - Erdölbevorratung; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2002, § 23 Rn. 56-65, 62.

65T. Linke, NZS 2004, 186, 188.

66Vgl. BVerfGE 30, 292, 324ff.; 95, 173, 187; siehe auch OVG Nds., NVwZ-RR 2002, 456, 457. A.A. O. Depenheuer, Arbeitgeber als Zahlstelle des Sozialstaates. Zur Indienstnahme privater Arbeitgeber zur Auszahlung des Kindergeldes, BB 1996, 1218, 1219; wohl auch R.P. Schenke, Verfassungsrechtliche Probleme einer präventiven Überwachung der Telekommunikation, AöR 125 (2000), S. 1-44, 38, die zur Voraussetzung machen wollen, dass der Staat die abverlangte Leistung nicht selbst erbringen kann und daher auf die Mitwirkung des in die Pflicht genommenen Privaten angewiesen ist.

67A.A. T. Linke, NZS 2004, 186, 189; R. Weimar/B.R. Elsner, GesR 2004, 120, 123. Zweifelhaft ist allerdings, ob auch eine Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes im Sinne des Untreuetatbestandes (§ 266 StGB) bejaht werden man mit der Folge, dass bei Nichteinziehung der Praxisgebührt dieser Straftatbestand erfüllt ist.

68Nach Ansicht des BVerfG (E 103, 172, 191) fungiert "der Vertragsarzt zugleich [als] Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt"!

69Zur verfassungsrechtlichen gebotenen Ausgleichsverpflichtung vgl. R. Weimar/B.R. Elsner, GesR 2004, 120, 123; T. Linke, NZS 2004, 186, 189f.; vgl. auch BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2001, 1269.

70Berechtigte Kritik an der mittlerweile vorherrschenden "Dominanz der Ökonomie im Gesundheitswesen" hat kürzlich der 107. Deutsche Ärztetag formuliert; vgl. Beschlussprotokoll v. 18.-21.5.2004, Ziff. I, S. 1ff.

71Dazu ("Inzwischen ist die - verdeckte - Rationierung längst Realität im deutschen Klinikalltag") und zu Verfassungsfragen einer Rationierung von Gesundheitsleistungen auf der "Mikroallokationsebene" W. Höfling, Rationierung von Gesundheitsleistungen im grundrechtsgeprägten Sozialstaat. Eine Problemskizze, in: G. Feuerstein/E. Kuhlmann (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen, 1999, S. 143-155, 144, 150ff.

72Auch E. Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689, 1692 kritisiert, dass "bei festen Budgetobergrenzen dem einzelnen Arzt im großen Umfang verkappte ökonomische Verteilungsentscheidungen zugewiesen werden".

73Vgl. nur BVerfGE 76, 171, 185: "Der Gesetzgeber muss ... berücksichtigen, dass die Rechtssetzung durch Berufsverbände besondere Gefahren für die Betroffenen und die Allgemeinheit mit sich bringen kann; zum Nachteil der Berufsanfänger und Außenseiter kann sie ein Übergewicht von Verbandsinteressen oder ein verengtes Standesdenken begünstigen, das notwendigen Veränderungen und Auflockerungen festgefügter Berufsbilder hinderlich ist. Am ehesten darf ein Berufsverband zur Normierung solcher Berufspflichten ermächtigt werden, die keinem statusbildenden Charakter haben und die lediglich in die Freiheit der Berufsausübung von Verbandsmitgliedern eingreifen". "Ausschlaggebend ist darüber hinaus, dass bloße Standesinteressen jedenfalls dann nicht ausreichen können, um eine Grundrechtsbeschränkung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber bei seiner Normierung der Berufspflichten selbst nicht darauf Bezug nimmt" (ebd., S. 188).